Der Nachtwandler
schätzte Ivana auf Ende siebzig), doch es war nicht ihre Nacktheit, die seine Aufmerksamkeit forderte, sondern das Tattoo auf ihrem Rücken: Zwei blaue Schlangen wanden sich wie eine DNA-Helix um die Wirbelsäule, die Köpfe ruhten einander zugewandt auf den knochigen Schulterblättern, die spitzen Zungen im Nacken zu einem Kuss verknotet.
Ivana hatte begonnen, sich mit einem Waschlappen erst das Gesicht, dann den Halsansatz und zuletzt die Brüste zu waschen, während es in Leons Nase immer heftiger juckte.
Der Geruch frisch gewaschener Wäsche ließ ihn für einen Moment an die Legende von den Unternächten denken, was die bizarre Situation für ihn noch unwirklicher machte.
Da begann Ivana unvermittelt, laut zu schluchzen, und als Nächstes warf sie den nassen Waschlappen wütend gegen den Spiegel.
»Du Scheißkerl«, sagte sie laut. Dann griff sie sich wieder ihren Morgenmantel und schlurfte aus dem Bad, ohne das Licht zu löschen.
Mit Ivana war auch Leons Niesreiz verschwunden. Er wartete eine Weile, und als er hörte, wie im Wohnzimmer der Fernseher angeschaltet wurde, wagte er es, sein Versteck zu verlassen.
Die Wohnung war exakt wie seine geschnitten: Der Flur hinter dem Bad erstreckte sich nach links zum Salon. Rechter Hand lag die Diele mit der Tür zum Treppenhaus, nur wenige Schritte entfernt. Allerdings gab es ein Problem, denn anders als bei ihm, ein Stockwerk höher, war diese Wohnung seit Jahren nicht mehr renoviert worden. Davon zeugten nicht nur die gelbstichigen Tapeten und die teilweise losen Scheuerleisten, sondern auch die bei jeder Bewegung laut knarzenden Dielen.
Leon hoffte, dass der Fernseher für eine ebenso gute akustische Ablenkung sorgte wie vorhin die Waschmaschine, als er zur Haustür schlich, und am Ende wäre er womöglich unbemerkt aus Ivanas Wohnung gelangt, wenn nicht das Telefon geklingelt hätte.
Der grüne Apparat mit der altertümlichen Wählscheibe stand direkt neben ihm auf einem gehäkelten Untersatz am Rand einer Teakholzkommode.
Leon sah sich hilfesuchend um und zögerte einen Tick zu lange, sich rasch in das letzte Zimmer vor dem Ausgang zu flüchten, in den Raum, der dem Arbeitszimmer seiner Wohnung entsprach. Aber hier unten war die Tür ausgehängt, und außerdem schien das Zimmer bis auf einen kleinen Umzugskarton völlig leer zu stehen.
Nichts, wo ich mich verstecken könnte, dachte er noch, als das Telefonklingeln wieder erstarb. Und er hinter sich die erstaunte Stimme Ivana Helsings hörte.
20.
H err Nader?«
Leon schnellte herum und sah sich einer ängstlich dreinblickenden Frau gegenüber, die nervös am Gürtel ihres Morgenmantels nestelte. Ihre Brille war etwas beschlagen, der graue Haaransatz noch nicht ganz trocken. Sie trug enganliegende gepunktete Pantoffeln, in denen sich die Gelenke ihrer schräg stehenden großen Zehen in den Stoff drückten.
Leon sah seine einzige Chance in der Flucht nach vorn.
»Was machen Sie denn hier, Frau Helsing?«
»Ich?«, fragte sie verblüfft. Dann lächelte sie unsicher.
»Ja, was machen Sie in meiner Wohnung?«
»In Ihrer Wohnung?« Ihr Lächeln bekam einen gequälten Anstrich.
Leon meinte, ihren inneren Widerstreit zu fühlen. Einerseits kannte sie ihn als netten, unauffälligen Nachbarn. Andererseits hatte sie Angst zu erfahren, weshalb er auf einmal wie aus dem Nichts aufgetaucht war und wirres Zeug redete. Zumal in diesem Aufzug! Immerhin stand er in einem verstaubten Blaumann vor ihr, mit völlig verschwitzten, ins Gesicht geklatschten Haaren und dreckverschmierten Händen.
Leons Gedanken rasten. Schlicht die Wahrheit zu sagen (Ich habe eine Tür hinter meinem Schrank entdeckt, durch die ich im Schlaf in einen Schacht steige, der über Umwege in Ihrem Badezimmer endet.) würde ganz gewiss nicht dazu beitragen, die Situation zu entschärfen.
Natürlich hätte er es beweisen und ihr die Luke zeigen können, doch bevor er nicht wusste, was er im Labyrinth (so hatte er die Welt hinter den Wänden für sich getauft) alles angestellt hatte, wollte er sich keiner fremden Person anvertrauen.
»Kann ich Ihnen irgendwie helfen, Frau Helsing?«, setzte Leon seine Scharade fort, dann sah er nach links in das leere Zimmer und tat überrascht. »Moment mal, ich …«
Er begutachtete seine Umgebung wie ein Schauspieler, der unbekanntes Terrain betritt. Dann hielt er sich die Hand vor den Mund. »Großer Gott, ich, ich … Also, das ist mir jetzt sehr peinlich. Ich fürchte, ich habe mich …«
»Sie haben
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