Der Nachtwandler
was?«
»Mich verlaufen.«
»Wie bitte?«
»Ja, ich habe unten die Post holen wollen und war in Gedanken, als ich wieder die Treppe hinaufging. Ihre Tür stand offen, und ich muss wohl angenommen haben, ich wäre bereits im dritten Stock, denn auch ich habe meine Haustür für den kurzen Moment nur angelehnt. Frau Helsing, ich weiß nicht, was ich sagen soll …«
Er ließ den letzten Satz unvollendet in der Luft stehen und suchte nach einem Anzeichen in dem Gesicht der alten Dame, dass sie ihm diese haarsträubende Notlüge abgekauft hatte.
»Meine Tür stand offen?«, fragte Ivana, nicht einen Deut weniger misstrauisch.
»Ja, ich weiß, wie sich das anhört, aber ich arbeite gerade an einem großen Projekt, ein Auftrag, der in den nächsten Tagen fertig sein muss, und wenn ich über ein Detailproblem nachdenke, bin ich manchmal wie weggetreten …«
Leon begann zu schwitzen, auch weil ihm bewusst wurde, dass seine Behauptung wie jede gute Lüge einen wahren Kern hatte.
Ivana Helsing schüttelte ungläubig den Kopf und trat einen Schritt beiseite, um an ihm vorbei zur Haustür zu sehen. Ihr Blick verfinsterte sich, als sie die Kette sah, die von innen vorgelegt war.
Verdammt.
»Das glaube ich nicht …«, sagte sie leise.
»Ich weiß, es hört sich verrückt an, aber …«
»Ich glaub’s einfach nicht, dass mir das schon wieder passiert ist.«
»Schon wieder?« Jetzt war Leon verwirrt.
Ivana seufzte und rieb sich ein Auge, ohne ihre Brille abzunehmen. »Ich hab schon mit meinem Arzt geredet, wegen meiner Vergesslichkeit, wissen Sie. Er sagt, es sei nichts Schlimmes, kein Alzheimer oder Demenz oder eine andere Geißel. Einfach nur der herkömmliche Verfall des Körpers, wenn man in die Jahre kommt.« Sie schüttelte wieder den Kopf. »Aber es macht mir Angst, Leon. Ich vergesse die einfachsten Dinge. Trinken zum Beispiel. Ich müsste viel mehr trinken. Nachts lasse ich manchmal den Fernseher laufen. Und immer wieder entwischt mir Alba durch die Tür. Sie haben sie nicht zufällig gesehen?«
»Nein«, sagte Leon. »Aber machen Sie sich mal keine Sorgen. Vergesslichkeit muss nichts mit dem Alter zu tun haben«, versuchte er, die Situation zu entkrampfen. »Wer von uns beiden steht denn in einer fremden Wohnung?«
Sie lachte hell, und mit diesem Lachen fiel ein großer Teil der Anspannung von ihr ab.
»Es tut mir wirklich sehr leid, ich verspreche, es wird nicht wieder vorkommen, Frau Helsing.«
»Warten Sie bitte noch«, rief sie ihm hinterher, als er sich zur Ausgangstür wandte.
»Ja?«
»Ich hab mir gerade Tee aufgesetzt.« Sie deutete mit einer schüchternen Handbewegung zu dem Wohnzimmer hinter sich. »Wollen Sie mir nicht etwas Gesellschaft leisten, wo Sie schon einmal da sind?«
Sie griff nach seiner Hand, ohne sich an dem Schmutz daran zu stören. »Bitte bleiben Sie doch.«
»Das ist wirklich sehr lieb von Ihnen«, wehrte Leon ab. »Aber wie ich schon sagte, ich stecke mitten in einem Architekturwettbewerb, und ich …«
Während er ihre Hand schüttelte, fiel sein Blick auf eine Sesselgarnitur, die im Wohnzimmer um einen offenen Kamin gruppiert war. Über der Feuerstelle hing ein gewaltiges Ölgemälde.
Er stockte.
»Stimmt etwas nicht?«, fragte Ivana, wieder etwas nervöser, und drehte sich, um Leons starrem Blick folgen zu können.
»Ja«, sagte er abwesend, ließ ihre Hand los und ging neugierig zum Wohnzimmer.
»Was haben Sie denn? Ist Ihnen nicht gut?«
»Wie bitte?« Leon blinzelte. »Was, ach so. Nein, gar nichts. Ich frage mich nur … dieses Bild.«
Er zeigte zum Kamin und fühlte sich auf einmal wieder benommen.
»Ja, was ist damit?«
»Der Mann, das Porträt, ist das nicht …?«
»Albert von Boyten, ganz genau.«
»Sie kennen den Architekten dieses Hauses?« Leon drehte sich zu ihr.
»Ja«, lächelte Ivana, diesmal leicht verschmitzt, und mit einem Mal blitzte der Schalk wieder auf, der sich in ihrer Jugend sehr oft in ihrem Nacken versteckt haben musste. »Ich war lange Zeit seine Geliebte.«
21.
L eon setzte sich ihr gegenüber auf einen Sessel, den er zuvor von einem Stapel alter Frauen- und Rätselzeitschriften befreit hatte, die jetzt zwischen ihnen auf dem Couchtisch lagen.
Ivana hielt sich mit geradem Rücken, ohne die Lehne ihres Sessels zu berühren, sorgfältig darauf bedacht, den Saum des Morgenmantels nicht über die zusammengepressten Knie rutschen zu lassen.
»Das mit Ihrer Frau tut mir übrigens sehr leid«, sagte sie, während sie Leon
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