Der Nachtwandler
Tag an würde sein Nachbar sich nie wieder sicher fühlen. Nicht, wenn er abends spazieren ging. Nicht, wenn er in seinem Auto saß und in den Rückspiegel schaute. Und erst recht nicht mehr in seiner Wohnung, in der er wie aus dem Nichts heraus angegriffen worden war.
»Ich hole Hilfe«, sagte Leon und ging davon aus, dass er gar nicht zu Tareski durchdrang. Der arme Mann rang vielleicht nicht mehr mit dem Tode, aber unvermindert heftig nach Luft, unfähig, etwas anderes als sich selbst zu spüren.
Vielleicht schmeckte er das Blut im Mund von der aufgebissenen Zunge, womöglich hörte er sein Würgen und Keuchen, vielleicht auch das epileptische Pumpen seines Herzens und das Blut, das mit dem Druck eines Wasserwerfers von innen gegen die Trommelfelle schoss. Aber ganz sicher konnte Tareski die Geräusche nicht hören, die Leon bis ins Mark erschütterten, als er sich gerade nach einem Telefon umsah.
Das ist unmöglich.
Leon drehte sich zum Klavier, vor dem der Apotheker noch immer in Embryonalhaltung kauerte. Starrte auf die Tasten, vor denen niemand saß und die sich dennoch bewegten – und exakt die Töne erzeugten, die er die letzten Monate so oft gehört hatte.
Aber wieso …?
Leon trat einen Schritt näher und bemerkte das dünne Kabel, das versteckt an der Seite des Klaviers angebracht war und, am Fuße angelangt, nach hinten, vermutlich zu einer Steckdose in der Wand verlief.
Konsterniert blickte er abwechselnd zu dem Apotheker und wieder zu dem elektrischen Klavier, das offenbar mit Absicht fehlerhaft programmiert war. Der Rhythmus der Tonleitern war holprig, klang ungeübt, und hin und wieder, scheinbar zufällig, gab es eine Dissonanz, als verspiele sich jemand.
Das ergibt doch alles keinen Sinn.
Leon beugte sich über die Tastatur, studierte das aufgeschlagene Notenblatt, sah dann zu Tareski, der es mittlerweile auf alle viere geschafft hatte und wie ein Hund den Boden anhustete – und in diesem Augenblick wurde ihm mit geradezu schmerzhafter Klarheit bewusst, mit welchem Code er die Geheimtür unten im Labyrinth öffnen konnte.
32.
D er Rückweg durch Tareskis Kammer kam nicht in Frage.
Leon wollte zurück ins Labyrinth, was theoretisch möglich gewesen wäre, sobald er wieder in seinem Bad und damit in seiner Wohnung war. Doch der Zugang durch die Geheimtür in seinem Schlafzimmer war ihm versperrt, seitdem der Schrank sich nicht mehr bewegen ließ. Das mochte an dem Grad von Leons Erschöpfung liegen, an seiner fehlenden Kraft. Im Augenblick würde er sofort einschlafen, wenn er sich auch nur eine Sekunde Ruhe gönnte – vielleicht war diese Entwicklung aber ebenso unerklärlich wie alles andere, was ihm bislang auf der Suche nach Natalie widerfahren war, eine Suche, die sich immer mehr zu einer Suche nach sich selbst entpuppte.
So oder so, die Konsequenz blieb die gleiche: Leon musste einen anderen Eingang zu der Welt zwischen den Wohnungen wählen, um seinen Verdacht zu überprüfen. Und da blieb ihm nur eine Möglichkeit.
Er entriegelte die Haustür des Apothekers, dem es immer noch nicht gut, aber deutlich besser zu gehen schien. Mittlerweile hatte Tareski es aus eigener Kraft auf seine Couch geschafft und hustete nicht mehr ganz so laut wie zuvor. Leon wusste nicht, ob sein Nachbar ihn erkannt hatte, aber das war jetzt auch gleichgültig.
Alles, was zählte, war, dass er so schnell wie möglich zu der ACHTUNG-Tür im Labyrinth gelangte.
Im Hausflur wurde Leon von einem dumpfen Hämmern und dem Kreischen einer Kreissäge empfangen, das das unheimliche Spiel des elektronischen Klaviers aus Tareskis Salon sofort verschluckte.
Der Geruch von frischen Holzspänen lag in der Luft. Der Lautstärke nach befanden sich die Bauarbeiter im Erdgeschoss.
Mein Gott, ist wirklich schon so viel Zeit vergangen?
Leon erinnerte sich an das Mitteilungsblatt der Hausverwaltung. Als er zuletzt einen Blick auf die Magnettafel an der Küchentür geworfen hatte, hatten die angekündigten Renovierungsarbeiten noch drei Tage lang ausgestanden. Und jetzt rissen die Handwerker bereits die ersten Dielen von der Treppe.
Er wollte den Aufzug wählen, aber der hing im Erdgeschoss fest, vermutlich durch Materialtransporte blockiert (Stellen Sie sich auf längere Wartezeiten ein), und Leon hatte keine Geduld, also schlich er die Stufen herunter.
Zu seinem Glück waren die Arbeiten noch nicht sehr weit fortgeschritten, weshalb er unbehelligt bis in den zweiten Stock gelangte, wo er sich notdürftig mit der
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