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Der Nachtwandler

Der Nachtwandler

Titel: Der Nachtwandler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sebastian Fitzek
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Illusion, die man einfach aus der Welt schaffen kann, indem man die Aufnahme wieder löscht. Doch Tareskis hervorquellende Augen, sein schaumverschmierter Mund, das aufgeblähte, blauviolett verfärbte Gesicht würden nicht einfach per Knopfdruck verschwinden. Im Gegenteil. Der Anblick des reglos vor seinem Klavier auf dem Teppich liegenden Apothekers würde ihn ein Leben lang verfolgen, dessen war Leon sich sicher.
    Er sah sich um und entdeckte einen Beistelltisch in der Nähe des Fensters, auf dem eine Schere lag, die er sich griff, auch wenn sie ihm vermutlich nicht mehr viel nutzen würde.
    Auf der Aufnahme hatte er sich von hinten angeschlichen, als Tareski nichtsahnend an seinem Klavier gesessen hatte, die Augen konzentriert geschlossen, wie man in dem Spiegelbild der blankpolierten, schwarzen Lackfläche des Pianos hatte erkennen können. Irgendwo zwischen der Kammer und dem Salon musste Leon seinen Schnürsenkel gelöst haben, um ihn wenige Schritte später mit einem raschen, festen Ruck um den Hals seines Opfers zu schlingen.
    Tareski hatte nach Luft geschnappt, die Augen, die jetzt nicht mehr blinzelten, weit aufgerissen und in einem reflexartigen Automatismus versucht, die Finger unter die Schlinge zu bekommen, mit der Leon ihm unerbittlich die Luftzufuhr abschnürte. Gleichzeitig hatte er sich aufgebäumt, hatte sich von der Bank vor dem Klavier hochgedrückt und versucht, sich zu drehen, vermutlich, um seinen heimtückischen Angreifer zu identifizieren, aber als ihm das nicht gelang, konzentrierte er sich aufs nackte Überleben und richtete alle Anstrengungen darauf aus, wieder atmen zu können.
    Irgendwann, nachdem Leon einen Knoten geknüpft und Tareski röchelnd vor seinem Klavier liegen gelassen hatte, war es dem Apotheker immerhin gelungen, einen Daumen unter die Schlinge zu schieben. Offenbar hatte Leon nur halbherzig zugezogen oder – und das wäre noch schlimmer – mit Absicht ein wenig Spielraum gelassen, damit der Todeskampf länger andauerte.
    »Ich habe ihn erdrosselt«, flüsterte Leon erschüttert und kniete sich hin. Tränen traten ihm in die Augen, und er fühlte eine Schuld, so groß, dass er zum ersten Mal verstehen konnte, weshalb Menschen freiwillig aus dem Leben schieden. Er setzte die Schere an dem Knoten an und schnitt dabei Tareski ins Fleisch, was ein Glück war, denn andernfalls wäre ihm die Schmerzreaktion vielleicht entgangen. Tareskis Oberlippe hatte nur leicht gezittert, aber immerhin war es ein Lebenszeichen.
    Ohne sich damit aufzuhalten, nach dem Puls zu fühlen, begann Leon mit den Wiederbelebungsversuchen. Er drehte den Apotheker auf den Rücken, setzte beide Hände zur Druckpunktmassage über dem Herzen an, und …
    Drei … Zwei … Eins.
    Nichts!
    »Komm schon!«, rief er und begann von vorne.
    Drei … Zwei … Eins.
    Leon überstreckte Tareskis Hals und presste die Lippen auf dessen geöffneten Mund. Aufgeputscht von der Hoffnung, es könnte doch noch nicht zu spät sein, presste er die Luft aus seinen Lungen in die des Apothekers; spürte, wie dessen Oberkörper anschwoll und wieder in sich zusammensank.
    »Na, los. Bitte …«
    Leon wechselte wieder zur Herzmassage, wobei es ihm vorkam, als geschähen alle seine Handlungen in Zeitlupe.
    Wann immer er Tareskis Rippen nach unten rammte, schossen ihm Gedanken wie Lichtblitze durch den Kopf.
    Drei …
    Es geht nicht nur um Natalie. Oder um Tareski. Ich bin mit allen Wohnungen verbunden. Kann alle Nachbarn beobachten.
    Zwei …
    Ich bin ein Fan des Architekten, habe von Boytens Werke studiert.
    Eins …
    Nicht wir haben diese Wohnung ausgesucht. Sondern sie uns.
    Null.
    Am Ende des vierten Intervalls wurde Leon regelrecht zurückgestoßen. Tareski bäumte sich unter ihm auf, spuckte und röchelte gleichzeitig, dann folgten die Krämpfe.
    Gott sei Dank!
    Der spastisch verkrümmte Körper des wiederbelebten Apothekers wurde von so starken Hustenanfällen geschüttelt, dass Leon befürchtete, der Mann bekäme noch immer nicht genügend Sauerstoff, aber dann hörte er, wie es ihm gelang, zwischen zwei krampfartigen Attacken einen Schwall Luft einzusaugen, und die damit verbundenen, pfeifenden Atemgeräusche waren wie Musik in seinen Ohren.
    »Es tut mir leid«, sagte Leon, wissend, dass diese Entschuldigung vollkommen unzureichend war für das, was er getan hatte, wenn auch im schuldunfähigen Zustand. Selbst wenn seine Attacke keine bleibenden körperlichen Schäden verursacht haben sollte – von diesem

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