Der Nachtwandler
werden. Leon konnte das Telefonklingeln nicht mehr ignorieren und schlug die Augen auf.
Wer kann das sein?
Es war stockdunkel im Schlafzimmer, und er tastete blind nach dem Lichtschalter auf dem Nachttisch. Der Geruch von frischer Wäsche und Weichspüler stieg ihm in die Nase, als er sich zur Seite drehte. Für einen kurzen Moment ärgerte er sich, dass Natalie sich offenbar über seinen Aberglauben hinweggesetzt und während der Unternächte das Bett neu bezogen hatte, bis ihm einfiel, dass das momentan seine geringste Sorge war.
Hatte das Telefonklingeln im Flur die Aufwachphase eingeläutet, holte ihn der Blick auf die leere Betthälfte vollends in die Realität zurück.
Ich bin allein, verdammt.
»Ja, ja, ich komm ja schon«, rief er ärgerlich, während er die Decke zurückschlug, und fragte sich, ob er gestern zu viel oder zu wenig getrunken hatte. Seine Stimme war heiser, der Mund trocken, und der Rachen fühlte sich an, als hätte er mit Glasscherben gegurgelt.
Apropos Scherben. Ich muss unbedingt die Lampe reparieren, die vor Tagen von der Decke gefallen ist.
Er suchte nach den Kleidungsstücken, die er am Abend vor dem Zubettgehen ausgezogen hatte, doch statt seiner Jeans und dem Sweatshirt lag ein blauer Arbeitsoverall über dem Sekretär, und die Stiefel, die er sonst nur auf der Baustelle trug, standen unter dem Stuhl.
Was zum Teufel machen die denn da?
Immer noch trunken von einem Schlaf, der ihn eher ausgelaugt als belebt zu haben schien, schlurfte er nackt in den Flur, wo er sich das Telefon aus der Ladestation griff.
»Ja?«
Im ersten Moment hörte er nur ein statisches Rauschen, und er dachte schon, seine Adoptiveltern, denen er zu Weihnachten eine Kreuzfahrt geschenkt hatte, versuchten, ihn vom Schiff aus zu erreichen, doch dann sagte eine vertraute Stimme zögerlich: »Ich bin’s.«
»Sven?«
Er fuhr sich durch die abstehenden Haare und wunderte sich, dass sie sich so ungewaschen anfühlten. Starr vor Dreck.
»Was zum Teufel gibt es, mitten in der Nacht?«
»In der Nacht? Es ist Nachmittag.«
»Was?«
Leon ging zur Küche, um sich etwas zu trinken zu holen.
»Erzähl keinen Quatsch.«
Er öffnete die Tür, wobei sich Natalies Van-Gogh-Postkarte mit dem Sonnenblumenmotiv von der Magnettafel löste und zu Boden fiel.
»Mir ist nicht zum Scherzen zumute«, sagte Sven, während Leon wie angewurzelt vor dem Kühlschrank stehen geblieben war.
»Das gibt’s doch nicht.«
Die grünen Ziffern der LED-Uhr an der Kühlschranktür verschwammen vor seinen müden Augen, aber es konnte keinen Zweifel daran geben, dass sie Svens Zeitangabe bestätigten: 17.22 Uhr.
Das kann nicht sein. Ich kann unmöglich so lange geschlafen haben. Zumal er sich eher so fühlte, als hätte er jemandem beim Umzug geholfen.
»Tut mir echt leid«, stöhnte Leon. »Hab ich etwa einen Termin verpasst?« Er erinnerte sich dunkel an die Geburtstagsparty eines ihrer Auftraggeber.
»Ja. Aber deswegen ruf ich nicht an.«
Sven sprach sehr konzentriert und langsam, dennoch musste er bei jedem zweiten Wort noch einmal neu ansetzen.
»Du klingst aufgeregt«, fragte Leon vorsichtig, um seinen Freund nicht zu verletzen, der es nicht leiden konnte, wenn man ihn auf seinen Sprachfehler ansprach. »Ist was passiert?«
Haben wir den Auftrag verloren?
Die letzten Tage, nachdem Natalie ihn scheinbar grundlos verlassen hatte, hatte er sich mit Arbeit betäubt. Hatte Tag und Nacht nur an dem Modell gesessen und war nicht mehr aus dem Haus gegangen, nicht einmal ins Büro, weswegen Sven vorbeigekommen war, um die Arbeit abzuholen.
»Das müsste ich eigentlich dich fragen. Geht es dir wieder besser?«
»Besser?« Leon öffnete den Kühlschrank und griff nach der H-Milch. »Wieso fragst du?«
»Du warst völlig neben der Spur bei unserem letzten Treffen. Hinterher hab ich mir Vorwürfe gemacht, dich alleine gelassen zu haben, aber das mit der Katze war einfach zu krass.«
»Was für ein Treffen? Was für eine Katze? Wovon redest du die ganze Zeit?« Er trank einen Schluck direkt aus dem Tetrapak. Solange Natalie sich ihre ominöse Auszeit nahm, konnte sie ihm deshalb wenigstens keine Vorhaltungen machen. Der einzige Vorteil seines ungewollten Singledaseins, auf den er nur zu gerne verzichten wollte, wenn sie nur endlich wieder bei ihm wäre.
»Ich rede von gestern, als ich dir das Modell zurückgebracht habe«, stotterte Sven noch eine Spur aufgeregter.
»Zurück?«
Leon erinnerte sich nur daran, wie Sven die Studie
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