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Der Nachtwandler

Der Nachtwandler

Titel: Der Nachtwandler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sebastian Fitzek
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zu flattern. Es war weniger eine Frage von Minuten denn von Sekunden, bis sie wieder das Bewusstsein verlor.
    »Du darfst nicht …«, nuschelte sie wieder, aber diesmal klang es weniger flehend. Nicht, als ob sie ihn um etwas bitten, sondern nur etwas feststellen würde.
    Sein Blick wanderte zu ihrer Hand mit dem ausgerissenen Daumennagel.
    Was darf ich nicht? Dich weiter quälen?
    Er wagte nicht, ihr ins Gesicht zu sehen, zu groß war die Angst, die Wahrheit darin zu sehen.
    »Du musst …«
    Hierbleiben? Dich retten? Ist es das, was du sagen willst?
    Hoffnung keimte in ihm auf, und er beugte sich nun doch nach vorne, um sie besser verstehen zu können.
    »Hab keine Sorge, Schatz. Ich weiß, ich darf nicht wieder einschlafen.«
    »NEIN.«
    Sie bäumte sich auf, in einer allerletzten, verzweifelten Aufwallung und sank sofort, jeglicher Energie beraubt, in sich zusammen.
    »Nein? Was meinst du mit Nein?«
    Ich soll doch einschlafen? Aber das ergibt keinen Sinn.
    Natalies Atem wurde flacher, die Stimme war nur noch ein Flüstern, kaum mehr ein Hauch, doch der erschütterte Leon mit der Stärke eines Orkans, als sie ihren letzten Satz zu ihm sagte: »Du irrst dich, es ist alles genau umgekehrt.«
    »Umgekehrt? Was meinst du mit umgekehrt?«, fragte er bang, und dann sprang ein furchtbarer Gedanke in den Waggon der Achterbahn, deren Gleise sich durch Leons Gehirn schraubten, nahm an Fahrt auf, drehte einen Looping und schoss mit unglaublicher Beschleunigung in sein Bewusstsein:
    Es geht nicht darum, dass ich nicht einschlafen darf.
    Es ist alles genau umgekehrt.
    ICH MUSS … SO BLEIBEN.
    ICH DARF NICHT … AUFWACHEN!

35.
    A ufwachen.
    Ein einziges Wort mit der Wirkung einer Explosion.
    Die ersten Sprengsätze der sich anbahnenden Selbsterkenntnis detonierten mit schmerzhafter Wucht unter Leons Schädeldecke.
    Ich darf nicht aufwachen?
    »Das glaube ich nicht«, protestierte er matt, und ihm fiel selbst auf, wie merkwürdig er auf einmal redete. Oder hatte er die ganze Zeit über schon gelallt und wie unter Drogeneinfluss geklungen?
    Leon stand auf und wollte einen Schritt vom Bett zurücktreten, aber seine Beine versagten ihm den Dienst. Am liebsten hätte er gelacht, doch auch seine Lippen waren wie gelähmt. Sein Gesicht war zur Maske erstarrt.
    »Willst du etwa sagen, ich träume?«
    Ich bilde mir alles nur ein? Dich? Das Labyrinth? Unser Gespräch?
    »Nein«, weinte Natalie verzweifelt.
    »Was nein?« Leon brüllte. »Was geschieht hier mit mir?«
    Ich schlafe nicht. Ich bin nicht wach. Was bin ich dann?
    Natalie versuchte, ihm eine Antwort zu geben, aber ihre Lippen bewegten sich lautlos.
    »Was bin ich?« Leon hielt ihren Kopf fest, der wieder nach unten sacken wollte.
    Sie braucht Wasser. Einen Arzt.
    Er musste an Volwarth denken und wie er ihm erklärt hatte, weshalb er nicht glaubte, dass Leon während des Schlafs zur Gewalt fähig wäre, und auf einmal verstand er, was Natalie ihm die ganze Zeit zu erklären versucht hatte.
    Natürlich. Volwarth.
    Nicht schlafend. Nicht wach. Was bin ich?
    Der Psychiater hatte ihm schon vor Tagen die Antwort auf diese Frage gegeben.
    »… genau genommen schläft der sogenannte Schlafwandler gar nicht. Er befindet sich in einer anderen, kaum erforschten Bewusstseinslage zwischen Schlaf und Wachsein. Ich nenne sie das dritte Stadium.«
    In dem Leon, wie er mit einem Mal begriff, gefangen war.
    Genau in diesem Augenblick. Der Psychiater hatte es perfekt diagnostiziert: »Ganz gleich, was Sie sagen, ich glaube nicht, dass Sie Ihrer Frau im Schlaf etwas angetan haben.«
    Nicht im Schlaf.
    Nein.
    Sondern im vollbewussten, schuldfähigen Zustand.
    Leon griff sich mit beiden Händen an den Kopf und starrte Natalie an, die wieder in eine andere, hoffentlich schmerzfreie Welt abgetaucht war, und versuchte, gegen die schreckliche Wahrheit anzukämpfen: dass er nicht gewalttätig war, wenn er schlafwandelte.
    Sondern, wenn er aufwachte!
    Dann plante er die Architektur seiner Folterkammer, baute Türen in die Wände und erschuf sich eine Zwischenwelt hinter ihrer Wohnung.
    Die Tür hinter dem Schrank, der Venezianische Spiegel, das Blut in der Badewanne …
    Alles, woran er sich in diesem Augenblick erinnern konnte, hatte er nicht im wachen Zustand, sondern als Nachtwandler erlebt.
    »Aber das kann nicht sein«, hörte er sich selbst sagen, wie aus weiter Entfernung, doch tief in seinem Innersten wusste er, dass es sehr wohl möglich war. Volwarth hatte ihm von ähnlichen Fällen

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