Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Nachtwandler

Der Nachtwandler

Titel: Der Nachtwandler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sebastian Fitzek
Vom Netzwerk:
nicht greifen konnte.
    Handschellen?
    Dann hörte er eine Stimme, die nicht seine eigene war und vom Bett zu kommen schien. Die Person, die darauf lag, war nicht zu sehen, aber Leon brauchte kein Bild, um zu wissen, wer hier seinen Namen weinte.
    Natalie!
    Er vergaß zu blinzeln, während er mit weit aufgerissenen Augen auf den Monitor starrte, und wurde von der Flut der plötzlich über ihn hereinbrechenden Erinnerungen beinahe vom Stuhl gerissen. Es war kein Traum!
    Ich war dort. Im Labyrinth. Hinter der Tür. Bei ihr.
    Er erinnerte sich vage an eine Tür hinter dem Schrank, an die dunklen Gänge und den Geheimcode (a-Moll) und an die Handschellen, mit denen er sich an ein Heizungsrohr gekettet hatte.
    Um das Schlimmste zu verhindern.
    Leon hatte das Gefühl, als wäre es jemandem gelungen, eine Traumkamera in seinem Kopf zu installieren, die die Bilder speicherte, die man üblicherweise nach dem Aufwachen sofort wieder vergaß.
    Aber ich habe nicht geschlafen. Und ich war auch nicht wach.
    Auf der Aufnahme gingen die rasselnden Atemgeräusche in ein Würgen über. Unbewusst fasste er sich an den Kehlkopf und ahnte, weshalb sein Hals so rauh war und ihm das Schlucken immer noch schwerfiel.
    Der Schlüssel. Natalies Lebensversicherung.
    Er hörte auf zu blinzeln, während er auf den Monitor starrte.
    Das Bild begann zu zittern, er hörte ein gutturales Stöhnen, dann kippte die Kamera nach unten, und Leon sah, wie sich ein Schwall Erbrochenes über die Bauarbeiterstiefel an seinen Füßen ergoss.
    Während er auf dem Video weiter würgte, tastete Leon in der Gegenwart nach dem Overall neben sich auf dem Sekretär, und spürte die angetrocknete Flüssigkeit auf dem Hosenbein. Ein rascher Blick zu den Schuhen unter seinem Stuhl bestätigte, dass auch sie verschmutzt waren. Und an einem von ihnen fehlte ein Schnürsenkel.
    »Nein, nicht«, brüllte Leon den Laptop an, als könne er damit verhindern, sich selbst dabei zuzusehen, wie er den Schlüssel aus dem Erbrochenen klaubte.
    Bitte, lass mich das nicht tun. Lass es aufhören, flehte er in Gedanken. Aber es hörte nicht auf. Im Gegenteil. Die Aufzeichnung lief gnadenlos weiter. Die Bilder verschwammen wegen des kurzen Abstands zwischen der Kamera und dem Heizungsrohr, dafür war der Ton der Aufnahme jetzt umso lauter.
    Eine Handschelle schabte über Metall, dann klackte es laut, und die Tatsache, dass die Kamera auf einmal in die Höhe schnellte, war ein sicheres Zeichen dafür, dass es Leon gelungen war, seine Fesseln zu lösen.
    Großer Gott.
    Der Anblick, der sich ihm aus der stehenden Perspektive bot, war exakt so, wie Leon ihn erwartet hatte: Natalie war ans Bett gekreuzigt, mit einem Hundehalsband fixiert. Doch anders als in der Erinnerung an seinen Traum war sie diesmal bei vollem Bewusstsein.
    Die Kamera fuhr näher an ihr Gesicht, so nah, dass Leon die feinen Poren auf der Nase erkennen konnte, das verkrustete Blut am Kinn, das den kleinen Leberfleck bedeckte, den er in den letzten Jahren so oft geküsst hatte. Sie blinzelte, geblendet von dem Licht der Kopfkamera. Dicke Tränen lösten sich, sowohl aus dem geöffneten als auch aus dem verletzten Auge.
    »Leon?«, fragte sie, und das Kamerabild wackelte bestätigend.
    »Leon, es tut mir so leid.«
    Dir? Dir tut es leid?
    Sie klang zu Tode erschöpft und atemlos, aber nicht verzweifelt. Wie ein Mensch, der am Ende seiner Reise angekommen ist.
    »Ich wollte dich nicht betrügen.«
    »Betrügen?«, fragte Leon den Monitor. Mit Tränen in den Augen berührte er die elektrostatisch knackende Oberfläche des Laptops und zog die aufgeplatzten Lippen seiner Frau mit dem Zeigefinger nach.
    »Leon, bitte. Verzeih mir.«
    »Oh Gott, Liebling.«
    Natürlich. Was immer du getan hast. Ich verzeihe dir, dachte er. Hauptsache, du bist wieder bei mir.
    Doch sein Alter Ego, unten im Labyrinth, schien seinem Opfer nicht vergeben zu wollen. Ein Schatten fiel über das zerschlagene Gesicht seiner Frau.
    »Bitte, bitte nicht …«
    »Nicht, keine Schmerzen mehr …«
    Sie fielen sich gegenseitig ins Wort.
    Natalie flehte die Kamera an und Leon seinen Computer. Er betete, dass er in einer jener Schlaflähmungen steckte, aus denen er sich nur durch lautes Schreien befreien konnte. Aber anders als sonst hatte er längst erkannt, dass es diesmal kein Traum war.
    Etwas Goldenes blitzte auf dem Monitor auf. Leon brauchte eine Weile, bis er die Spitze seines eigenen Füllfederhalters erkannte.
    Großer Gott … Nein!
    »Ich liebe

Weitere Kostenlose Bücher