Der Nachtwandler
dich«, sagten sie fast gleichzeitig. Er, oben in seinem Schlafzimmer. Sie, unten in der Folterkammer. Und während Leon seine Verzweiflung herausschrie, klang Natalie nur noch traurig und resigniert. Er konnte in ihrem Gesicht sehen, dass sie wusste, was sie erwartete.
Natalie schloss ihr unverletztes Auge, kurz bevor es geschah. Bevor er ihr den Füllfederhalter mit so großer Wucht frontal in den Hals rammte, dass er fast bis zur Hälfte darin verschwand.
»Neiiiiiinn!«
Leon schrie, sprang auf, riss den Metallstuhl, auf dem er gesessen hatte, hoch und warf ihn durchs Zimmer gegen den Wandspiegel, der mit einem Knall zerplatzte. Risse zogen sich wie ein Spinnennetz durchs Glas, aus dem sich grobzackige Splitter lösten und zu Boden fielen. Gleichzeitig ergossen sich vierhundert Liter Wasser auf den Schlafzimmerboden. Der Metallstuhl war von der Wand zurück auf Natalies Aquarium geprallt und hatte einen Teil der Scheiben regelrecht herausgerissen.
Bitte nicht. Lass es nicht wahr sein.
Leon vergrub das Gesicht weinend in den Händen; biss sich in die Finger, so fest, dass der Schmerz ihn aus dem Traum gerissen hätte, wenn es denn einer gewesen wäre. Aber es war real. Der Füller im Hals, Natalies punktierte Luftröhre, ihr ersticktes Röcheln, das Pfeifen mit jedem Atemzug, das erst länger, dann leiser wurde, ihr langsam auszuckender Körper, der Kopf, der nach vorne sackte, und die darauf einsetzende, unerträglich laute Stille, mit der die Aufnahme noch lange nicht zu Ende war.
Leon sah immer wieder durch seine vor den Augen verschränkten Finger und ertrug den Anblick nie länger als eine Sekunde. Das Monitorbild mit Natalies reglosem Körper im Zentrum wackelte und zog Schleier, doch diesmal war es kein Fehler der Aufnahme. Leons Augen hatten sich in Sturzbäche verwandelt, und sein Körper zitterte konvulsivisch.
Er wischte sich die Tränen mit dem Handrücken ab, und dabei fiel sein Blick auf eine Visitenkarte neben dem Computer.
Kroeger?
Leon hatte die Karte noch nie zuvor gesehen, den Namen nie zuvor gehört und wusste nicht, was sie dort zu suchen hatte, aber das Siegel auf der Vorderprägung sagte ihm, was er als Nächstes tun musste.
Polizei! Ich muss die Polizei rufen!
Um das Telefon zu bedienen, brauchte er beide Hände. Er stand unter Schock und war derart überfordert, dass ihm selbst die Nummer des Notrufs entfallen war. Als er sich endlich erinnert hatte, gab es eine dramatische Veränderung auf dem Bildschirm.
Sein Alter Ego im Folterverlies schien endlich genug von Natalies reglosem Anblick zu haben und bewegte sich rechtzeitig, bevor die Stopp-Funktion der Kamera wegen der Ruheposition wieder einsetzte.
Und jetzt? Was mache ich jetzt?
Das Kamerabild schwenkte nach links zu dem Bereich hinter dem Bett, wo sich die Scheinwerferstative und der Tisch befanden, an den Leon eine dumpfe Erinnerung hatte, ebenso wie ihm das darauf drapierte Sexspielzeug auf eine unheimliche Art vertraut zu sein schien.
»Es tut mir leid«, schluchzte er.
Was hab ich nur getan? Und weshalb?
Er verstand nicht, weshalb sie ihn um Verzeihung gebeten hatte. Und er konnte nicht fassen, was als Nächstes geschah.
Wie schon im Eingangsbereich hingen auch an der Rückseite des Raumes Plastikplanen von der Decke, die sich, wie von einer unsichtbaren Hand bewegt, vor der Stirnbandkamera teilten und den Blick auf eine dahinterliegende Tür freigaben, die völlig ungesichert war. Ein Tritt mit dem Stiefel und sie sprang auf.
Es gibt einen zweiten Ausgang? Ich hätte einfach gehen und Hilfe holen können?
Leons Verzweiflung erreichte eine neue Stufe, die üblicherweise nur Selbstmörder überschritten. Das Telefon in der Hand hatte er vorerst vergessen.
Wohin zum Teufel gehe ich jetzt?
Hinter der Tür verlief eine Treppe, steil wie eine Feuerleiter, im Zickzackkurs nach oben. Leon hörte sich schon nach den ersten Stufen keuchen.
Er wollte nicht mehr hinsehen. Wollte, dass es endlich zu Ende war. Aus. Vorbei. So wie der Rest seines Lebens.
Aber sein nachtwandelndes Ich war noch lange nicht fertig. Stufe um Stufe stieg es die Treppe nach oben. Schritt für Schritt wurde sein Atem auf dem Band schwerfälliger, und auch im Schlafzimmer zog sich eine unsichtbare Schlinge um Leons Brustkorb.
Was habe ich noch alles getan?
Als das Ende der Treppe erreicht war, wurde die Aufnahme wieder etwas verschwommener, ähnlich wie zu Beginn der Aufzeichnung, und Leon beugte sich zu dem flimmernden Monitor, so nah, dass
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