Der Nachtwandler
sich das Bild vor ihm in einzelne Punkte auflöste.
Der Scheinwerfer der Stirnkamera erfasste etwas, das wie eine Spanholzplatte aussah. Leon sah sich selbst die Hand ausstrecken und die Platte nach innen drücken.
Im Video öffnete sich eine weitere Geheimtür.
Gleichzeitig spürte Leon im Schlafzimmer einen kalten Lufthauch im Nacken, und ein Schatten wanderte über den Bildschirm. Und dann hörte er plötzlich alles doppelt:
Das Knarren, mit dem sich die Geheimtür öffnete.
Das Knirschen der Stiefel auf den Scherben.
Und obwohl es nur eine einzige logische Erklärung für dieses akustische Phänomen geben konnte, dauerte es viel zu lange, bis Leon reagierte.
Er starrte auf den Bildschirm, paralysiert von der Rückenansicht eines jungen Mannes, der wiederum auf einen Laptopmonitor starrte, und wollte nicht glauben, dass er keinen Fremden beobachtete.
Sondern sich selbst.
Wollte nicht wahrhaben, dass er keine Aufzeichnung sah. Sondern die Gegenwart.
Spät, viel zu spät drehte er sich zu der Lücke in der Wand, vor der bis eben noch sein zersplitterter Schlafzimmerspiegel gehangen hatte und in der jetzt ein Mann in einer Pfütze auf dem überschwemmten Parkett stand. In etwa so groß wie er selbst, von ähnlicher Statur. Mit braunen Haaren, blauem Overall, Sweatshirt und einem Paar Bauarbeiterschuhen, dessen rechtem Stiefel der Schnürsenkel fehlte.
Der Fremde trug ein Stirnband auf dem Kopf, auf dem eine Kamera befestigt war, deren Scheinwerfer Leon direkt in die Augen strahlte. So konnte er das Gesicht des Mannes nicht sehen, der blitzartig nach vorne schnellte, um Leon in einen Mahlstrom aus Schmerzen zu reißen – kurz bevor er eine neue Dimension der Dunkelheit kennenlernen sollte.
38.
W ie der Schlaf ist auch der Prozess des Aufwachens ein kaum erforschtes medizinisches Rätsel. Um nicht von jedem Geräusch geweckt zu werden, drosselt das Gehirn die Intensität der äußeren Reize, wobei es sich nicht in einem permanent gedämpften Zustand befindet. Mehrmals pro Stunde wechselt es für winzige Augenblicke in einen wachnahen Modus. In dieser kurzen Phase streckt das Gehirn seine Fühler in die Welt außerhalb des Traums hinaus, wie ein U-Boot sein Periskop, um zu überprüfen, ob es ratsamer wäre, den Bewusstseinszustand zu wechseln, etwa, weil dem Schlafenden Gefahr droht.
Außerhalb des wachnahen Schlafstadiums vermögen in der Regel nur sehr starke Reize den Menschen aus dem Schlaf zu reißen. Das laute Klingeln eines Weckers etwa, ein Schwall kaltes Wasser oder heftige Schmerzen – wie die, die Leon Nader gerade in die Realität zurückholten.
Eine Zeitlang hatte er noch gegen die Schlinge angekämpft, die ihm um den Hals lag und an der er jetzt nach oben gezerrt wurde.
Noch mit geschlossenen Augen hatte er festgestellt, dass der Schmerz, der seine Wirbelsäule entlangschoss, nur dann erträglicher wurde, wenn er dem Zug an seinem Kopf nachgab. Außerdem bekam er umso weniger Luft, je heftiger er sich wehrte.
Leon hörte seine Nackenwirbel knirschen und schlug die Augen auf. Noch saß er vollkommen nackt auf dem Fußboden, die Beine ausgestreckt, mit dem Rücken ans Bett gelehnt, doch wenn er nicht wollte, dass ihm sein Eigengewicht das Genick brach, musste er so schnell als möglich aufstehen.
Seine Beine waren wie Gummi. Er schaffte es zunächst nur auf die Knie. Der Druck um den Hals wurde schwächer, aber der erkämpfte Spielraum war schnell aufgebraucht.
Leon sah nach oben zu dem Haken in der Decke, an dem bei ihrem Einzug noch der Kronleuchter der Vormieterin gehangen hatte und über den jetzt das Seil seines Galgenstricks geführt wurde.
Der Unbekannte, der durch den Geheimgang hinter dem Spiegel in sein Schlafzimmer eingedrungen war, stand mit unbewegter Miene vor dem Sekretär und zog an dem anderen Ende des Stricks wie an einem Flaschenzug.
Leon bezweifelte, genügend Kraft zum Aufstehen zu haben, aber er hatte keine Wahl. Wenn er nicht sofort ersticken wollte, musste er sich aufrichten.
»Aufhören«, krächzte er, während Natalies Mörder ihn auf die Füße zwang.
Großer Gott. Und jetzt?
Um das Gleichgewicht zu halten, ruderte er mit den Armen, die seltsamerweise nicht gefesselt waren. Seine Hände steckten in dicken Latexhandschuhen. Wann immer er versuchte, nach dem Strick über seinem Kopf zu greifen, zog der Psychopath am anderen Ende noch heftiger zu, und Leon glaubte, sein Kehlkopf würde zerplatzen.
»Nicht«, hustete Leon erstickt. »Bitte nicht.«
Er
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