Der Nachtwandler
rollte panisch mit den Augen und bemerkte einen Stuhl in seiner Nähe. Vorhin hatte er ihn gegen den Spiegel gefeuert, jetzt stand er wieder aufrecht in Reichweite.
Als wollte der Killer ihn für seine Entdeckung belohnen, lockerte er für einen kurzen Moment den Zug, und Leon konnte den Stuhl mit einem Bein zu sich heranziehen. Kaum war das geschafft, riss der Mann ihn wieder unbarmherzig nach oben. Und er hörte erst damit auf, nachdem sein Opfer auf den Stuhl geklettert war.
»Na bitte, geht doch«, lachte der Killer und befestigte das Ende des Leinenstricks mit einem kompliziert aussehenden Knoten an der Rippenheizung unter dem Fenster.
Nicht nur seine Stimme, die gesamte Erscheinung kam Leon bekannt vor, abgesehen von der Tatsache, dass der schlanke Mann sich große Mühe gegeben hatte, Leons äußeres Erscheinungsbild zu kopieren.
»Wer sind Sie?«, krächzte er, den Nacken leicht überstreckt. Leon war überrascht, dass er überhaupt ein Wort hervorbrachte. Damit er nicht etwa durch einen Sprung das Seil vom Haken lösen konnte, hatte der Irre es so stramm gezogen, dass er auf Zehenspitzen stehen musste, wenn er sich nicht selbst erwürgen wollte.
Der Mann, der ihn aufknüpfen wollte, war in seinem Alter, vielleicht etwas jünger, und bis auf die etwas zu groß geratene Nase und das fehlende linke Ohrläppchen gab es nichts Bemerkenswertes an seinem Allerweltsgesicht.
»Ich bringe Ihnen die Post«, lachte er und wedelte mit einer CD-Hülle, die er aus der Brusttasche des Overalls gezogen hatte.
Dann verließ er kurz den Raum, um mit einem Küchenhocker in der Hand ins Schlafzimmer zurückzukehren. Seine Sohlen quietschten auf dem nassen Holzfußboden.
Er setzte sich vor den Laptop und legte die CD ein.
Bitte, lieber Gott, mach, dass es aufhört. Lass es nicht noch schlimmer werden.
Von seinem Standpunkt aus konnte Leon die rechte Hälfte des Monitors einsehen. Mit jeder Kopfbewegung lief er Gefahr, sich den Hals blutig zu scheuern, trotzdem zog er es vor, sich zur Seite zu drehen, als Natalies Gesicht sich auf dem Bildschirm aufbaute. Ihr rechtes Auge schimmerte violett, die Lider waren zugeschwollen, und beim Sprechen stieß ihre Zunge an einen abgesplitterten Schneidezahn.
Leon konnte und wollte die Bilder nicht sehen, die ihn an seine dunkelsten Alpträume und an die Tatsache erinnerten, dass er seine Frau niemals wiedersehen würde.
Aber auch ohne die visuellen Eindrücke hörte die seelische Folter nicht auf, denn leider war es Leon nicht möglich, die Ohren zu verschließen. Der Psychopath hatte den Ton des Videos auf volle Lautstärke gestellt, damit Leon kein einziges Wort von Natalies akustischem Abschiedsbrief verpasste, den sie mit bebender Stimme für ihn eingesprochen hatte:
»Leon, es tut mir so leid«, begann sie. »Ich bin feige, ich weiß. Ich müsste dir alles ins Gesicht sagen. Du hättest es verdient. Aber dazu fehlt mir die Kraft, deshalb wähle ich diesen ungewöhnlichen Weg. Damit du es, wenn schon nicht persönlich, wenigstens mit meinen eigenen Worten hörst.«
»Stoppen Sie das!«, hustete Leon in eine Pause.
»Allerdings bin ich mir noch nicht sicher, ob meine Kraft ausreichen wird, dieses Geständnis in unseren Briefkasten zu legen. Für den Fall, dass ich auch dazu zu feige bin, werde ich dir wenigstens eine Karte an der Küchentür hinterlassen.«
Leon schloss die Augen und musste sie sofort wieder öffnen, weil er das Gefühl hatte, das Gleichgewicht zu verlieren und sich selbst zu strangulieren.
»Im Moment, in dem ich das hier aufnehme, schläfst du noch«, hörte er Natalie sagen.
»Gleich werde ich meine Sachen packen und hoffen, dass du dabei nicht aufwachst. Du scheinst wieder Alpträume zu haben. Deine Schlafstörungen sind schlimmer geworden, vermutlich, weil du spürst, dass etwas nicht in Ordnung ist. Wie recht du hast, Liebling. Und ich, nur ich bin daran schuld.«
Leon drehte sich nun doch wieder zu dem Sekretär, vor dem der Killer aufgestanden war und für einen kurzen Moment das Band angehalten hatte. Das eingefrorene Porträt von Natalie sah aus, als hätte sie es mit einem Handy in ihrer Dunkelkammer aufgenommen. Leon konnte die Laborutensilien im Hintergrund erkennen.
»Es ist mir etwas unangenehm«, grinste Natalies Mörder unvermittelt. »Aber dürfte ich mal Ihre Toilette benutzen? Ich habe nämlich Durchfall.«
An seinem Kichern erkannte Leon endlich, wer ihm das antat. »Ich lass so lange das Entertainmentprogramm für Sie laufen«,
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