Der Nachtwandler
Nacht an?« Anouka gelang es, ihrer Stimme gleichzeitig einen belustigten wie verärgerten Ausdruck zu verleihen. Das charakteristische Geräusch einer Klospülung donnerte durch die Leitung.
»Natalie hat gestern unsere Wohnung verlassen, und ich kann sie seitdem nicht mehr erreichen«, erklärte Leon und drehte sich zur Wohnzimmertür. Bislang war er während des Telefonats zwischen Sofa und Fensterbrett hin und her getigert, doch seine Kehle kratzte beim Sprechen, und er beschloss, sich in der Küche ein Glas Wasser zu holen.
»Habt ihr euch gestritten?«, fragte Anouka.
»Ich weiß es nicht.«
»Du weißt nicht, ob ihr Streit hattet?«
Ich weiß noch nicht einmal, ob etwas sehr viel Schlimmeres passiert ist als nur ein harmloser Streit, aber das würdest du nicht verstehen.
»Das alles muss sich sehr merkwürdig anhören, ich weiß, aber kannst du mir bitte den Gefallen tun, ihr einfach zu sagen, sie soll sich bei mir melden, wenn du sie heute in der Galerie siehst?«
Natalie und Anouka hatten sich während ihrer Zeit an der Kunsthochschule erst ein Zimmer und später eine Wohnung geteilt. Lange bevor Leon sie kennengelernt hatte, waren sie sich einig gewesen, ihren Traum von einer eigenen Fotogalerie in der Altstadt zu verwirklichen. Ein Ort, an dem sie eigene Bilder und Werke anderer junger Künstler ausstellen würden. Vor gut zwölf Monaten hatten sie diesen Traum in die Tat umgesetzt, und nach den ersten Besprechungen in der Presse war die Galerie sehr gut angelaufen.
»Das kann ich nicht«, sagte Anouka.
»Was kannst du nicht?«
»Sie bitten, sich bei dir zu melden.«
»Wie bitte?«
Er wusste, dass Anouka ihn nicht ausstehen konnte, seitdem Natalie seinetwegen aus ihrer Zweier-WG ausgezogen war. Sie hielt ihn für einen Spießer, da er als Architekt nicht künstlerisch, sondern nur kommerziell arbeitete. Bei den wenigen Zusammentreffen sprachen sie nur das Nötigste, und die Ablehnung beruhte mittlerweile auf Gegenseitigkeit, da Leon herausgefunden hatte, dass Anouka ihrer Freundin anfangs dringend von einer Beziehung mit Leon abgeraten hatte. Trotz aller Antipathie war sie ihm bis heute jedoch nie feindselig entgegengetreten, zumindest nicht so offen.
»Du willst ihr meinen Anruf nicht ausrichten?«
»Nein. Ich kann es nicht, denn ich werde sie nicht treffen, so wie es aussieht.«
»Was soll das heißen?«
»Dass deine liebe Natalie schon seit zwei Wochen nicht mehr zur Arbeit kommt. Ich schmeiße den Laden hier ganz alleine.«
Benommen, als habe Anouka ihm einen Schlag gegen die Schläfen verpasst, blieb er im Flur stehen und starrte eine Magnettafel an, die in Kopfhöhe an der geschlossenen Küchentür befestigt war. Früher hatten Natalie und er sich daran liebevolle, ironische Nachrichten hinterlassen, je nachdem, wer früher aus dem Haus gegangen war. Aber der letzte Scherz (Schatz, hatten wir gestern Sex? Tut mir leid, wenn ich dabei geschnarcht habe. Nat) war schon Monate her, und im Moment klebte nur ein Mitteilungsblatt der Hausverwaltung unter dem Magneten, in dem die Mieter darauf hingewiesen wurden, dass in wenigen Tagen mit der Renovierung des Treppenhauses begonnen werde (Stellen Sie sich auf längere Wartezeiten beim Fahrstuhl ein!).
»Aber Natalie hat mir gesagt, ihr arbeitet an einer großen Ausstellung?«
Sternenkinder.
Eine Präsentation ebenso berührender wie verstörender Bilder rund um das Thema Fehl- und Totgeburten.
Deswegen war Natalie in den letzten Tagen doch immer früh aus dem Haus gegangen und erst spät zurückgekommen.
So wie vorgestern!
Er hatte mit einer Flasche Versöhnungs-Wein im Esszimmer auf sie gewartet und sie irgendwann geöffnet, als die Stunden ins Land zogen. Nachdem sie geleert war, war er betrunken ins Bett gefallen und hatte nicht bemerkt, wie sie nach Hause gekommen war.
»Sie hat mir gesagt, ihr arbeitet auf Hochtouren, damit alles rechtzeitig fertig wird.«
»Auf Hochtouren stimmt. Aber ich muss alles alleine stemmen, Leon. Keine Ahnung, was in ihr vorgeht. Ich weiß ja, sie ist etwas unzuverlässig, aber dass sie mich nicht ein einziges Mal zurückruft, obwohl ich ihr Dutzende Nachrichten auf der Mailbox hinterlassen habe, ist schon ein starkes Stück. Ich meine, das Thema der Ausstellung war ihre Idee, aber vielleicht war es doch zu früh.«
Nein, das glaube ich nicht.
Sicher, nach der Fehlgeburt letzten Sommer war Natalie zunächst am Boden zerstört gewesen, doch sie hatte es erstaunlich gut und schnell verkraftet,
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