Der Nachtzirkus
wie voll oder leer die Brandyflasche ist. Eigentlich ist es so nicht gedacht. Man fängt ein Projekt an, es wird entwickelt und organisiert und auf den Weg gebracht, und meistens läuft es irgendwann von selbst. Danach wird man nicht mehr gebraucht. Das ist nicht immer angenehm, aber so ist es nun mal, Chandresh kennt diesen Prozess zur Genüge. Man ist stolz, streicht das Honorar ein und geht, wenn auch leicht melancholisch, zum nächsten Punkt über.
Der Zirkus hat ihn zurückgelassen und ist weitergesegelt, er aber steht noch immer am Ufer. Er hatte mehr als genug Zeit, dem schöpferischen Prozess nachzutrauern und ihn wieder zu entfachen, aber ihm fehlt der zündende Funke. Seit vierzehn Jahren gibt es keine neuen Aufgaben, bietet sich ihm nichts Größeres oder Besseres.
Vielleicht hat er sich ja selbst übertroffen. Aber das ist kein angenehmer Gedanke, deshalb ertränkt er ihn in Brandy und versucht ihn zu ignorieren.
Der Zirkus setzt ihm zu.
Besonders zu Zeiten wie dieser, wenn die Flasche fast leer ist, in der Stille der Nacht. Es ist noch nicht sehr spät, für einen Zirkus ist der Abend sogar noch ziemlich jung, doch die Ruhe ist schon jetzt erdrückend.
Und nun, da Flasche und Füllfederhalter fast versiegt sind, sitzt er einfach da, fährt sich zerstreut mit der Hand durchs Haar und starrt vor sich hin. Das Feuer im vergoldeten Kamin glimmt nur noch, die hohen, mit Kuriositäten und Relikten überladenen Bücherregale ragen im Halbdunkel empor.
Sein unsteter Blick wandert umher und bleibt an der Tür auf der anderen Flurseite hängen. Der Tür zu Marcos Büro, das versteckt zwischen zwei persischen Säulen liegt und Teil einer Zimmerflucht ist, die Marco gehört, damit er jederzeit auf Abruf bereitsteht; heute Abend ist er allerdings ausgegangen.
Den Kopf vom Alkohol vernebelt, fragt sich Chandresh, ob Marco vielleicht die Zirkusdokumente in seinem Büro aufbewahrt. Und was genau diese Dokumente wohl enthalten. Er hat die mit dem Zirkus verbundenen Papiere immer nur flüchtig gesehen und sich seit Jahren nicht mehr um Einzelheiten gekümmert. Jetzt ist er neugierig.
Die nunmehr leere Brandyflasche in der Hand, steht er auf und stolpert in den Flur. Wahrscheinlich abgeschlossen, denkt er, als er die glänzende dunkle Holztür erreicht, doch der silberne Knauf lässt sich mühelos drehen. Die Tür springt auf.
Chandresh zögert noch. Bis auf den Lichtkegel aus dem Flur und den trüben Dunstschleier der Straßenlaternen, der durch das einzige Fenster fällt, ist das winzige Büro dunkel.
Chandresh überlegt abermals. Wenn noch etwas Brandy in der Flasche wäre, würde er die Tür vielleicht wieder schließen und gehen. Doch die Flasche ist leer, und im Übrigen ist es sein Haus. Er tastet nach dem Schalter an der Wandleuchte neben der Tür, das Licht geht an und erhellt das Zimmer.
Das Büro ist mit zu vielen Möbeln vollgestellt. Aktenschränke und Truhen stehen an den Wänden, Kartons mit Ordnern sind in akkuraten Reihen gestapelt. Der Schreibtisch in der Mitte, der den halben Raum einnimmt, ist eine kleinere, bescheidenere Ausgabe von dem im Arbeitszimmer, allerdings sind die Tintenfässer, Stifte und zahlreichen Notizbücher schön geordnet und gehen nicht in einem Wust von Figürchen, wertvollen Steinen und antiken Waffen unter.
Chandresh stellt die leere Flasche auf den Schreibtisch und fängt an, Schränke und Ordner zu durchsuchen. Er öffnet Schubladen und blättert in Papieren, ohne wirklich zu wissen, wonach er eigentlich sucht. Für den Zirkus gibt es offenbar keinen eigenen Bereich; ein paar Unterlagen finden sich in Büchern mit Theaterabrechnungen und Listen von Einnahmen aus Kartenverkäufen.
Er ist leicht überrascht, dass es kein erkennbares Ablagesystem gibt. Keine Etiketten auf den Kartons. Alles sieht ordentlich aus, ist aber eindeutig nicht organisiert.
In einem Aktenschrank findet Chandresh Baupläne und Skizzen. Viele tragen Mr Barris’ Stempel und Initialen, auf einigen Schaubildern finden sich jedoch Handschriften, die Chandresh nicht kennt. In manchen Fällen kann er nicht mal die Sprache identifizieren, auch wenn jedes Dokument am Rand sorgfältig mit »Le Cirque des Rêves« beschriftet ist.
Chandresh geht mit den Papieren näher ans Licht und breitet sie auf dem wenigen freien Platz am Boden aus, begutachtet sie Blatt für Blatt und lässt sie dann nacheinander fallen.
Selbst die von Mr Barris erstellten Originalpläne sind überschrieben worden und mit
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