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Der Nachtzirkus

Der Nachtzirkus

Titel: Der Nachtzirkus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erin Morgenstern
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Und Gelächter, ein schrilles Lachen, das sich harmonisch in den Klang der Musik einfügt. Auf der Zunge bekommt er einen würzig-süßen Geschmack. Er fühlt sich heiter und unbeschwert, spürt aber auch heimliche Spannung und Sinnlichkeit. Eine Hand legt sich ihm auf die Schulter, so dass er zusammenzuckt und den Deckel zurück auf die Schatulle fallen lässt.
    Schlagartig ist das Gefühl vorbei. Bailey steht alleine im Zelt unter den funkelnden Sternen.
    Das reicht jetzt, denkt er sich und kehrt mit vorsichtigen Schritten, um keine Gläser oder Flaschen umzustoßen, zurück zum Schlitz in der Zeltwand.
    Bei dem postkartengroßen Schild, das vom Band baumelt, bleibt er stehen und hängt es so, dass es besser zu sehen ist, ohne genau zu wissen, warum. Das Bild vom schlafenden Kind, das in seinem Bett unter dem Sternenhimmel liegt, zeigt jetzt nach außen, ob es aber gute oder schlechte Träume hat, ist schwer zu sagen.
    Auf dem Rückweg zu Poppet und Widget fragt er sich, ob die beiden vielleicht auch auf dem großen Platz etwas essen möchten. Dann weht ihm der Geruch von Karamell in die Nase, und er merkt, dass er doch nicht besonders hungrig ist.
    Bailey läuft die gewundenen Pfade entlang und denkt immer noch an die geheimnisvollen Flaschen. Als er um eine Ecke biegt, sieht er eine statuengleiche Gestalt auf einem Sockel, die aber anders ist als die schneebedeckte Frau von zuvor.
    Diese Frau hat einen blassen, glänzenden Teint, und ihr langes schwarzes Haar ist mit Dutzenden von Silberfäden gebunden, die ihr über die Schultern fallen. Ihr weißes Kleid ist mit schwarzen filigranen Mustern bestickt, doch als Bailey näher herantritt, sieht er, dass die schwarzen Linien in Wahrheit auf den Stoff geschriebene Worte sind. Als er nah genug ist, um sie zu entziffern, wird ihm klar, dass es sich um handschriftliche Liebesbriefe handelt. Worte voller Sehnsucht und Verlangen schlingen sich um ihre Taille und fließen die Kleidschöße hinab bis zum Sockel.
    Die Statue steht still wie eine Salzsäule, doch sie hat eine Hand ausgestreckt, und erst jetzt fällt Bailey die junge Frau mit rotem Schal auf, die der mit Liebesworten bedeckten Gestalt eine purpurrote Rose hinhält.
    Kaum merklich, mit einer sehr langsamen Bewegung, greift die Statue nach der Rose. Ihre Finger öffnen sich, und die junge Frau wartet geduldig, bis die Hand den Stiel sicher umfängt, erst dann lässt sie los.
    Und dann verbeugt sich die junge Frau vor der Statue und geht zurück in die Menge.
    Vor dem schwarzweißen Kleid der Statue wirkt das Rot der Rose noch greller.
    Bailey steht noch immer wie gebannt davor, als Poppet ihm auf die Schulter tippt.
    »Die gefällt mir am besten«, sagt Poppet und betrachtet die Statue ebenfalls.
    »Wer ist das?«, fragt Bailey.
    »Sie hat viele Namen«, sagt Poppet, »aber die meisten nennen sie die Paramour. Ich bin froh, dass jemand ihr heute eine Blume geschenkt hat. Wenn sie keine hat, gebe ich ihr manchmal eine. Ich finde, ohne Blume fehlt ihr etwas.«
    Die Statue führt die Rose kaum wahrnehmbar zu ihrer Nase. Ihre Augenlider schließen sich langsam.
    »Was hast du in der Zwischenzeit gemacht?«, fragt Poppet, als sie von der Paramour zum großen Platz gehen.
    »Ich war in einem Zelt voller Flaschen und Sachen, aber ich wusste nicht, ob ich da wirklich reindarf«, sagt Bailey. »Es war … sonderbar.«
    Zu seiner Verwunderung fängt Poppet an zu lachen.
    »Das ist Widgets Zelt«, erklärt sie. »Celia hat es ihm eingerichtet, damit er üben kann, Geschichten zu erzählen. Er meint, so sei es einfacher, als sie aufzuschreiben. Widge wollte übrigens noch üben, Leuten aus den Gesichtern zu lesen, wir treffen ihn dann später. Er macht das manchmal, um neue Ideen für Geschichten zu bekommen. Er ist wahrscheinlich im Spiegelgang oder im Zeichensaal.«
    »Was ist das?«, fragt Bailey und ist noch begieriger, etwas über das unbekannte Zelt zu erfahren als über Celia, die Poppet seines Wissens bisher nicht erwähnt hat.
    »Das ist ein Zelt mit schwarzen Wänden, in dem Eimer voller Kreide stehen, mit der man überall zeichnen darf. Manche Besucher schreiben nur ihren Namen, andere zeichnen ganze Bilder. Widge schreibt manchmal kurze Geschichten auf, aber er malt auch, das kann er ziemlich gut.«
    Während sie auf dem Platz spazieren gehen, drängt Poppet ihn, einen scharf gewürzten Kakao zu trinken, ein angenehm wärmendes, aber auch leicht schmerzhaftes Erlebnis. Bailey stellt fest, dass sein Appetit

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