Der Nachtzirkus
runden Henkel versehenen Deckel und schaut hinein. Eine kleine Rauchwolke steigt daraus empor, doch ansonsten ist es leer. Als Bailey in das Gefäß späht, riecht er den Rauch eines prasselnden Feuers und einen Hauch von Schnee und Röstkastanien. Interessiert zieht er den Duft ein. Es riecht nach Glühwein und Zuckersachen, nach Pfefferminz und Pfeifenrauch. Nach frischen Tannenzweigen. Dem Wachsduft brennender Kerzen. Er kann den Schnee und die Aufregung, die Vorfreude und den süßen Geschmack gestreifter Zuckerstangen fast spüren. Es ist ein schwindelerregendes und wunderbares, aber auch befremdliches Gefühl. Schnell schließt er den Deckel wieder und stellt das Gefäß vorsichtig zurück auf den Tisch.
Fasziniert betrachtet er die anderen Gläser und Flaschen, zögert aber, ein weiteres Behältnis zu öffnen. Schließlich nimmt er eines der Einweckgläser aus Milchglas und dreht den silberfarbenen Metalldeckel auf. Dieses Glas ist nicht leer, sondern enthält ein Häufchen weißen Sand. Ein unverkennbarer Meeresgeruch steigt daraus empor, wie an einem Sommertag am Strand. Er hört das Rauschen der Brandung und das Kreischen einer Möwe. Auch etwas Rätselhaftes ist dabei, etwas Phantastisches. Die Flagge eines Piratenschiffs am Horizont, die Schwanzflosse einer Meerjungfrau, die hinter einer Welle verschwindet. In der salzigen Seeluft liegt die Aussicht auf Abenteuer und erhebende Gefühle.
Bailey schraubt das Glas wieder zu; der Geruch und das Gefühl verflüchtigen sich, das Häufchen Sand ist wieder luftdicht eingeschlossen.
Als Nächstes nimmt er eine lange, dünne Flasche vom Regal an der Wand und überlegt, ob sie sich in irgendeiner Weise von den Gläsern und Flaschen auf dem Tisch unterscheidet und ob die seltsamen Behältnisse nicht doch einer verdeckten Ordnung folgen.
Die ausgewählte Flasche ist mit einem Korken verschlossen, den ein Silberdraht hält. Er entfernt ihn mit einiger Mühe und lässt den Korken vorsichtig knallen. Am Flaschengrund befindet sich etwas, aber er kann es nicht genau erkennen. Aus dem dünnen Hals steigt ein anregender, blumiger Duft. Ein Rosenstrauch in übervoller Blüte, der moosige Geruch von Blumenerde. Es ist, als würde er einen Gartenweg entlangspazieren. Er hört Bienen summen und Vögel in den Bäumen zwitschern. Als er tiefer einatmet, erkennt er neben den Rosen noch weitere Blumen: Krokusse, Lilien und Iris. Die Blätter der Bäume rascheln in der warmen Brise, und plötzlich hört er dicht neben sich Schritte. Er hat das deutliche Gefühl einer Katze an seinen Beinen, doch als er nach unten schaut, ist dort nur der Boden mit den Gläsern und Flaschen. Bailey steckt den Korken wieder in die Flasche und stellt sie zurück aufs Regal. Dann sucht er eine andere aus.
Ganz hinten auf einem Regalbrett steht eine kleine dickbauchige Flasche mit kurzem Hals und einem passenden gläsernen Stöpsel. Vorsichtig nimmt er sie herunter. Sie ist schwerer, als er vermutet hätte. Als er den Stöpsel entfernt, ist er zunächst verwundert, weil sich weder ein besonderer Geruch noch eine Wirkung bemerkbar machen. Dann weht ihm der kühle Herbstwind den Duft von Karamell in die Nase. Außerdem riecht es nach Wolle und Schweiß, so dass er fast glaubt, er hätte einen dicken Wintermantel an und einen warmen Schal um den Hals. Ihm ist, als sähe er Menschen mit Masken. Der Geruch eines Feuers mischt sich mit dem Karamell. Und plötzlich sieht er vor sich eine Bewegung, etwas fährt herum. Etwas Graues. Ein stechender Schmerz in seiner Brust. Das Gefühl zu fallen. Ein Geräusch wie Windgeheul oder die Schreie eines Mädchens.
Bailey steckt den Stöpsel wieder auf die Flasche und stellt sie zurück ins Regal. Er möchte jedoch nicht mit diesem verstörenden Eindruck gehen und beschließt deshalb, noch ein anderes Behältnis auszuprobieren, bevor er sich wieder mit Poppet und Widget trifft.
Diesmal entscheidet er sich für eine der Schatullen aus glänzendem Holz, die auf dem Tisch stehen, mit schnörkeligen Ätzmustern im Deckel. Innen ist sie mit weißer Seide ausgekleidet. Ein weihrauchartiger Duft schlägt ihm entgegen, stark und würzig, und er spürt Rauch um seinen Kopf aufsteigen. Es ist heiß, trockene Wüstenluft mit sengender Sonne und pulverweichem Sand. Seine Wangen erröten von der Hitze und noch etwas anderem. Für ihn fühlt es sich an, als würden feinste Seidenbahnen über seine Haut geweht. Eine ihm unbekannte Melodie ertönt. Von einer Pfeife oder Flöte.
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