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Der Nachtzirkus

Der Nachtzirkus

Titel: Der Nachtzirkus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erin Morgenstern
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zurückgekehrt ist, und sie teilen sich eine Portion Teigtaschen und eine Packung Esspapier, auf dem zum Geschmack passende Bilder sind.
    Anschließend schlendern sie durch ein Zelt voller Nebel, in dem ihnen Tiere aus Papier begegnen. Weiße Schlangen mit zuckenden schwarzen Zungen kriechen über den Boden, Vögel mit kohlefarbenen Flügeln flattern umher. Der Schatten eines undefinierbaren Wesens huscht Poppet über die Füße und verschwindet wieder. Sie behauptet, irgendwo im Zelt befinde sich ein feuerspuckender Papierdrache, und obwohl Bailey ihr glaubt, kann sein Verstand sich mit der Vorstellung eines feuerspeienden Papierwesens nur schwer anfreunden.
    »Es wird langsam spät«, stellt Poppet auf ihrem Weg von Zelt zu Zelt fest. »Musst du nach Hause?«
    »Ich kann noch bleiben«, sagt Bailey. Er schafft es immer besser, unbemerkt zurück ins Haus zu gelangen, so dass er jeden Abend etwas länger im Zirkus bleiben konnte.
    Um diese Zeit sind nur noch wenige Besucher unterwegs, und auf ihrem Rundgang fällt Bailey auf, dass viele rote Schals tragen. Es sind Schals unterschiedlicher Art, von grober Wolle bis zu feinster Spitze, doch alle haben die gleiche tiefrote Farbe, die vor dem schwarzweißen Hintergrund noch röter wirkt.
    Nachdem Bailey genügend rote Farbtupfer gesehen hat, um einen Zufall auszuschließen, und er sich erinnert, dass auch die junge Frau mit der Rose einen roten Schal trug, fragt er Poppet, was es damit auf sich hat.
    »Es ist ein Erkennungszeichen«, sagt sie. »Das sind die rêveurs . Einige reisen dem Zirkus hinterher. Sie bleiben immer länger als die anderen Leute. Am Rot erkennen sie sich.«
    Bailey möchte noch mehr über die rêveurs und ihre Schals erfahren, doch Poppet zieht ihn unvermittelt in ein Zelt, und was er darin sieht, verschlägt ihm sofort die Sprache.
    Das Gefühl erinnert ihn an den ersten Schneefall im Winter, an die ersten Stunden, wenn alles von weichem, stillem Weiß überzogen ist.
    Alles in diesem Zelt ist weiß. Nichts Schwarzes, nicht einmal Streifen an der Wand. Ein schimmerndes, beinahe blendendes Weiß. Man sieht Bäume, Blumen und Wiesen, durch die sich kleine Kieswege schlängeln – und jedes Blatt, jede Blüte, jeder Halm strahlt in reinem Weiß.
    »Was ist das?«, fragt Bailey. Er hatte das Schild am Eingang noch nicht gelesen. »Das ist der Eisgarten«, sagt Poppet und zieht ihn hinter sich her. Der Weg führt zu einem großen Platz mit einem Springbrunnen in der Mitte, in dem durchsichtige Eisskulpturen von weißem Schaum überströmt werden. An den Zeltwänden stehen blasse Bäume, von deren Zweigen Schneeflocken rieseln.
    Außer ihnen befindet sich niemand im Zelt, es herrscht ungestörte Ruhe. Bailey entdeckt neben sich eine Rose, und obwohl sie vereist und weiß bereift ist, verströmt sie zarten Duft: einen Duft nach Rosen, Eis und Zucker. Bailey muss unwillkürlich an die Zuckerwatte denken, die es auf dem Platz in der Mitte zu kaufen gibt.
    »Lass uns Verstecken spielen«, schlägt Poppet vor, und Bailey ist gleich einverstanden. Daraufhin knöpft sie ihren Mantel auf, legt ihn auf eine verschneite Bank, und durch ihr weißes Kostüm ist sie plötzlich so gut wie unsichtbar.
    »Das ist nicht fair!«, ruft Bailey, als sie hinter den Hängezweigen eines Weidenbaums verschwindet. Er folgt ihr um Bäume und Hecken, durch vereiste Wein- und Rosenranken, immer geleitet vom Schimmer ihrer roten Haare.

Buchhaltung
    LONDON, MÄRZ 1900
    C handresh Christophe Lefèvre sitzt mit einer fast leeren Brandyflasche am großen Mahagonischreibtisch in seinem Arbeitszimmer. Irgendwann am Abend war da noch ein Glas gewesen, doch das findet er schon seit Stunden nicht mehr. Seine nächtlichen Streifzüge von einem Zimmer ins nächste sind eine von Schlaflosigkeit und Langeweile beflügelte Gewohnheit geworden. Er vermisst auch sein Jackett, das in einem der zuvor durchwanderten Zimmer liegt. Ein taktvolles Dienstmädchen wird es am Morgen kommentarlos zurückbringen.
    Zwischen kurzen Schlucken aus der Brandyflasche versucht er zu arbeiten, das heißt, er schreibt mit Füllfederhaltern auf verschiedene Papierfetzen. Richtig gearbeitet hat er seit Jahren nicht mehr. Keine neuen Ideen, keine neuen Produktionen. Der frühere Kreislauf, ein Projekt auf die Beine zu stellen, durchzuführen und dann zum nächsten überzugehen, ist längst durchbrochen, und er weiß nicht, warum.
    Er kann sich keinen Reim darauf machen. Weder an diesem Abend noch an einem anderen, egal,

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