Der Nachtzirkus
Ergänzungen in verschiedenen Handschriften versehen.
Chandresh lässt die Papiere auf dem Boden liegen und kehrt zurück zum Schreibtisch, zu dem ordentlichen Notizbuchstapel neben der leeren Brandyflasche. Es scheint sich um Kontenbücher zu handeln, reihenweise Zahlen und Berechnungen mit Anmerkungen, Summen und Daten. Chandresh wirft sie beiseite.
Er wendet seine Aufmerksamkeit jetzt dem Schreibtisch zu. Langsam zieht er die schweren Holzschubladen auf. Mehrere sind leer. Eine enthält jede Menge leere Notizbücher und ungeöffnete Tintenfässer. Eine andere ist voll mit alten Kalendern, die einzelnen Termine wurden von Marcos Hand sauber und ordentlich in einer Art Kurzschrift eingetragen.
Die letzte Schublade ist verschlossen.
Chandresh überlegt, ob er einen Karton mit Akten durchsehen soll, aber etwas zieht ihn zu der verschlossenen Schublade zurück.
Im Schreibtisch ist kein Schlüssel. An den anderen Schubladen sind keine Schlösser.
Er kann sich nicht erinnern, ob ein Schloss vorhanden war, als der Schreibtisch vor Jahren hier aufgestellt wurde, als das Büro nur den Schreibtisch und einen einzigen Aktenschrank enthielt und fast geräumig wirkte.
Nach einigem Suchen wird er ungeduldig, geht zurück in sein Arbeitszimmer und holt das Silbermesser, das in der Dartscheibe an der Wand steckt.
Zurück in Marcos Büro, legt er sich hinterm Schreibtisch auf den Fußboden, versucht das Schloss aufzustemmen und macht es dabei um ein Haar fast vollständig kaputt, doch dann gibt der Riegel mit einem befriedigenden Klicken nach.
Er legt das Messer auf den Boden, zieht die Schublade auf und findet nur ein Buch. Ein großes ledergebundenes Buch. Chandresh nimmt es aus der Schublade und lässt es, von seinem Gewicht überrascht, mit lautem Knall auf den Schreibtisch fallen.
Das Buch ist alt und staubig, das Leder abgewetzt, der Einband an den Kanten ausgefranst.
Er zögert nur kurz, dann schlägt er es auf.
Die Vorsatzblätter bedeckt eine ausnehmend schöne Zeichnung von einem mit Symbolen und Zeichen übersäten Baum. Er ist dicht beschrieben, mehr Tinte als leeres Papier. Chandresh kann nichts davon entziffern oder auch nur sagen, ob sich die Zeichen in Worte unterteilen oder fortlaufende Motivketten bilden. Hier und da entdeckt er ein bekanntes Zeichen. Einige sehen fast aus wie Zahlen. Andere ähneln ägyptischen Hieroglyphen. Das Ganze erinnert ihn an die Tätowierung der Schlangenfrau.
Auf den Buchseiten finden sich ähnliche Schriftbilder, allerdings enthalten sie vorwiegend Papierstücke, gesammelt aus anderen Dokumenten.
Nach ein paar Seiten stellt Chandresh fest, dass jeder Papierschnipsel eine Unterschrift trägt. Etliche Seiten weiter stellt er fest, dass er die Namen kennt.
Erst als er die Seite mit den beiden in Kinderschrift geschriebenen Namen der Murray-Zwillinge liest, ist er sich sicher, dass das Buch die Namen aller mit dem Zirkus verbundenen Personen enthält.
Und erst bei genauerem Hinsehen fällt ihm auf, dass sie mit Haarlocken versehen sind.
Die Seiten im hinteren Teil führen die Namen der ursprünglichen Gründungsmitglieder auf, wobei ein Name offensichtlich fehlt und ein zweiter entfernt wurde.
Auf der letzten Seite findet er seine eigene Unterschrift, mit schnörkeligen unleserlichen C , sorgfältig aus einem Stück Papier geschnitten, das eine Rechnung oder ein Brief gewesen sein könnte. Darunter ist eine einzige rabenschwarze Locke auf die Seite geklebt und von Symbolen und Buchstaben umgeben. Chandresh fasst unwillkürlich nach den Haarspitzen, die sich auf seinem Kragen kringeln.
Plötzlich fällt ein Schatten über den Schreibtisch, und Chandresh fährt erschrocken zurück. Das Buch klappt zu.
»Nun?«
Marco steht in der Tür und beobachtet Chandresh mit interessierter Miene.
»Ich … ich dachte, du kommst erst morgen wieder«, sagt Chandresh. Er blickt vom Buch zu Marco.
»Wollte ich auch, aber ich hatte ein paar Sachen vergessen.« Marcos Blick wandert über die am Boden verstreuten Papiere und Baupläne. »Darf ich fragen, was Sie da tun?«
»Die gleiche Frage könnte ich dir stellen«, erwidert Chandresh. »Was ist das alles?« Er schlägt das Buch wieder auf, die Seiten flattern hoch und legen sich.
»Aufzeichnungen für den Zirkus«, antwortet Marco, ohne das Buch anzusehen.
»Was für Aufzeichnungen?«, will Chandresh wissen.
»Es handelt sich um ein von mir selbst entworfenes System«, sagt Marco. »Wie Sie wissen, muss beim Zirkus vieles in
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