Der Nachtzirkus
sagt Poppet. »Aber kannst du mir einen Gefallen tun? Wenn du nicht mit uns gehst, könntest du dann heute Abend bitte nicht in den Zirkus kommen? Und das jetzt unseren Abschied sein lassen? Ich glaube, das wäre einfacher.«
Bailey starrt sie einen Moment lang verständnislos an, ihre Worte dringen nicht ganz zu ihm durch. Der Gedanke ist noch schrecklicher als die Frage, ob er mitgehen soll. Aber er nickt, weil er das Gefühl hat, es sei angemessen.
»In Ordnung«, sagt er. »Ich komme nur, wenn ich mit euch gehe. Versprochen.«
»Danke, Bailey.« Poppet lächelt, allerdings weiß er nicht, ob es ein glückliches Lächeln ist oder nicht.
Und bevor er ihr sagen kann, dass sie Widget von ihm grüßen soll, falls nötig, beugt sie sich vor und küsst ihn – nicht auf die Wange, wie sie es schon mehrmals getan hat, sondern auf den Mund, und im selben Moment weiß Bailey, dass er ihr überallhin folgen wird.
Poppet dreht sich wortlos um und geht. Bailey beobachtet sie, bis ihr rotes Haar nicht mehr zu sehen ist, und dann starrt er weiter hinter ihr her, die winzige Flasche fest in der Hand, immer noch unsicher, wie ihm zumute ist oder was er in den wenigen Stunden bis zu seiner Entscheidung tun soll.
Hinter ihm trotten die sich selbst überlassenen Schafe durch das offene Gatter auf die nächste Wiese.
Einladung
LONDON, 30 . OKTOBER 1901
O bwohl Celia Bowen bei der Ankunft des Zirkus in London versucht ist, Marco sofort zu besuchen, geht sie zuerst ins Midland Grand Hotel.
Sie erkundigt sich nicht am Empfang.
Sie spricht mit niemandem.
Sie steht in der Mitte der Eingangshalle, unbemerkt von Personal und Gästen, die unterwegs sind zu anderen Schauplätzen, anderen Verabredungen und anderen Durchgangsstationen.
Nachdem sie länger als eine Stunde dagestanden hat, starr wie eine Zirkusstatue, tritt ein Mann in einem grauen Anzug auf sie zu.
Er hört ihr reglos zu, und als sie fertig ist, nickt er nur.
Sie macht einen schönen Knicks, dreht sich dann um und geht.
Der Mann im grauen Anzug bleibt noch eine Weile allein und unbemerkt in der Eingangshalle stehen.
Überschneidungen I: Ein alter Hut
LONDON, 31 . OKTOBER– 1 . NOVEMBER 1901
A m Abend vor Allerheiligen ist der Zirkus immer besonders festlich. Auf dem Platz hängen weiße runde Papierlaternen, auf denen die Schatten tanzen wie lautlos heulende Fratzen. Ledermasken in Weiß, Schwarz und Silber mit Bändern zum Befestigen stehen in Körben am Tor und überall im Zirkus bereit für Besucher, die sie aufsetzen möchten. Manchmal sind Zirkusmitarbeiter und Besucher nur schwer zu unterscheiden.
Es ist eine völlig andere Erfahrung, anonym durch den Zirkus zu wandern, in die Umgebung einzutauchen und ein Teil der Atmosphäre zu werden. Viele Gäste genießen das Erlebnis enorm, während andere es als befremdlich empfinden und lieber ihr Gesicht zeigen.
Jetzt, in den Stunden nach Mitternacht, da die Uhr in das eigentliche Allerheiligen hineintickt, hat sich die Menge erheblich gelichtet.
Die verbliebenen maskierten Besucher wandern wie Geister umher.
Die Schlange für die Wahrsagerin ist um diese Zeit verschwunden. Die meisten Leute lassen sich die Zukunft am frühen Abend deuten und behalten sich die späten Nachtstunden für weniger intellektuelle Beschäftigungen vor. Am frühen Abend kamen die Ratsuchenden fast ununterbrochen, doch beim Übergang von Oktober zu November wartet niemand mehr im Vorraum und hinter dem Perlenvorhang, um zu hören, welche Geheimnisse die Karten zu erzählen haben.
Und dann teilt sich der Perlenvorhang, obwohl sie niemanden hat kommen hören.
Was Marco ihr zu sagen hat, sollte sie nicht schockieren. Die Karten haben es ihr schon seit Jahren gesagt, aber sie hat die Augen davor verschlossen und es vorgezogen, nur die anderen Möglichkeiten zu sehen.
Es aus seinem Munde zu hören ist allerdings eine ganz andere Sache. Kaum hat er die Worte ausgesprochen, schiebt sich eine vergessene Erinnerung in ihr Gedächtnis. Zwei grün gekleidete Gestalten inmitten eines belebten Ballsaals, die so unbestreitbar ineinander verliebt sind, dass der ganze Raum vor Hitze pulsiert.
Sie fordert ihn auf, eine Karte zu ziehen. Es überrascht sie, dass er darauf eingeht.
Dass die von ihm gezogene Karte Die Päpstin ist, überrascht sie weniger.
Als er geht, entfernt Isobel ihr Schild für den Abend.
Manchmal tut sie das schon früher oder für eine bestimmte Zeit, wenn sie vom Kartenlegen müde ist und eine Pause braucht. Oft besucht
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