Der Nachtzirkus
Boston geerbt hatte und der sie großzügigerweise in sein Haus eingeladen hat, bis sie anderswo Zimmer finden.
Nach Baileys erstem Eindruck hat August, ein sympathischer, wohlbeleibter Mann, Ähnlichkeit mit seinem Haus: ein gedrungenes Gebäude mit einer Veranda vorne, warm und einladend. Bei der Begrüßung hebt er Elizabeth fast vom Boden, und als Bailey ihm vorgestellt wird, drückt er ihm so begeistert die Hand, dass Bailey hinterher die Finger weh tun.
»Ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht«, sagt August, während er ihnen hilft, die Taschen auf die Veranda zu tragen. »Welche zuerst?«
»Die gute«, antwortet Elizabeth, noch ehe Bailey sagen kann, was er bevorzugt. »Wir waren zu lange unterwegs, um gleich mit schlechten Nachrichten empfangen zu werden.«
»Die gute Nachricht ist«, sagt August, »dass meine Vorhersage tatsächlich richtig war und Le Cirque sich ganz in der Nähe niedergelassen hat. Ihr könnt die Zelte vom Ende der Veranda aus sehen, wenn ihr euch ordentlich vorbeugt.« Von seinem Platz auf der Treppe aus zeigt er nach links.
Bailey eilt hin, dicht gefolgt von Lorena. Durch die Bäume sind die Spitzen der gestreiften Zelte in einiger Entfernung zu sehen, leuchtend weiße Punkte vor grauem Himmel und braunen Bäumen.
»Herrlich«, sagt Elizabeth und lacht über Lorena und Bailey, die über dem Geländer hängen. »Und die schlechte Nachricht?«
»Ich bin mir nicht sicher, ob sie wirklich schlecht ist«, sagt August, als wüsste er nicht so recht, wie er es erklären soll. »Vielleicht eher enttäuschend. Was den Zirkus betrifft.«
Bailey steigt vom Geländer und wendet sich wieder der Unterhaltung zu. Die große Freude, die er eben noch empfunden hat, fällt augenblicklich von ihm ab.
»Enttäuschend?«, fragt Victor.
»Na ja, das Wetter ist nicht ideal, wir ihr sicher schon bemerkt habt«, sagt August und zeigt auf die schweren grauen Wolken. »Gestern Abend hatten wir einen heftigen Sturm. Der Zirkus hat natürlich nicht aufgemacht, was schon für sich genommen merkwürdig war, denn ich habe es noch nie erlebt, dass er aufgebaut war und am ersten Abend wegen Schlechtwetters geschlossen bleibt. Na, jedenfalls war gegen Mitternacht irgendein, ich weiß nicht, wie ich es nennen soll, irgendein Lärm. Ein Krach, der das ganze Haus erschüttert hat. Ich dachte, irgendwo hat vielleicht der Blitz eingeschlagen. Über dem Zirkus war ziemlich viel Qualm, und ein Nachbar schwört, er habe einen taghellen Blitz gesehen. Heute Morgen habe ich einen Spaziergang dorthin gemacht, und alles scheint in Ordnung zu sein. Das Geschlossen -Schild hängt allerdings immer noch am Tor.«
»Wie seltsam«, bemerkt Lorena.
Ohne ein Wort springt Bailey über das Verandageländer und rennt, so schnell er kann, zwischen den Bäumen hindurch in Richtung der gestreiften Zelte; sein roter Schal weht hinter ihm her.
Alte Geister
LONDON, 31 . OKTOBER 1902
E s ist spät, und trotz der Straßenlaternen entlang der grauen Steinhäuser ist der Gehsteig dunkel. Isobel steht an der Treppe des Gebäudes, das sie fast ein Jahr lang ihr Zuhause nannte – inzwischen kommt es ihr wie ein ganzes Leben vor. Sie wartet auf Marcos Rückkehr und hat ein hellblaues Tuch um die Schultern gezogen, ein Streifen tagheller Himmel in der Nacht.
Es vergehen Stunden, bis Marco an der Ecke auftaucht. Als er sie sieht, umklammert er seine Aktentasche fester.
»Was tust du hier?«, fragt er. »Bist du nicht eigentlich in den Staaten?«
»Ich habe den Zirkus verlassen«, sagt Isobel. »Ich bin gegangen. Celia hatte nichts dagegen.«
Sie zieht einen verblichenen Papierfetzen aus ihrer Tasche, auf dem ihr Name steht, ihr richtiger Name, den sie vor vielen Jahren auf sein Drängen hin in eines seiner Notizbücher schreiben sollte.
»Natürlich hatte sie nichts dagegen«, sagt Marco.
»Darf ich mit nach oben kommen?«, fragt Isobel und zupft an ihrem Tuch.
»Nein.« Marco schaut zu den Fenstern hoch. Ein schwaches Licht erhellt das Glas. »Sag einfach, was du zu sagen hast.«
Isobel zieht die Stirn kraus. Sie schaut sich auf der Straße um, aber die ist dunkel und leer, nur eine kühle Brise fegt hindurch und lässt die Blätter im Rinnstein rascheln.
»Es tut mir leid«, sagt Isobel leise. »Ich hätte dir sagen sollen, dass ich mitgemischt habe. Was letztes Jahr passiert ist, ist zum Teil meine Schuld.«
»Du solltest dich bei Celia entschuldigen, nicht bei mir.«
»Das habe ich schon«, sagt Isobel. »Ich wusste,
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