Der Nachtzirkus
weit weg ist, und doch sieht er ihn, fast ohne Anstrengung, sieht jedes Zelt, selbst den dunklen Platz, auf dem Tsukiko wartet. Er spürt den gesamten Zirkus so selbstverständlich wie das Hemd auf seiner Haut.
Und das Einzige, was darin hell brennt, ist Celia.
Aber es ist eine flackernde Helligkeit. So schwach wie eine Kerzenflamme.
»Du hältst den Zirkus zusammen«, sagt er.
Celia nickt. Sie merkt es erst jetzt, aber ohne das Feuer ist es viel schwerer zu bewältigen. Sie kann sich nicht so konzentrieren, dass alle Einzelheiten intakt bleiben. Einige Elemente entgleiten ihr bereits und tropfen wie die Blumen ringsum.
Und sie weiß, wenn das Ganze zerbricht, kann sie es nicht wieder zusammensetzen.
Sie beginnt zu schwanken und zittert weiter, auch als Marco sie fester in die Arme schließt.
»Lass einfach los, Celia.«
»Ich kann nicht«, sagt sie. »Wenn ich loslasse, bricht er zusammen.«
»Was passiert mit uns, wenn er zusammenbricht?«, fragt Marco.
»Ich weiß es nicht«, sagt Celia. »Ich halte ihn in der Schwebe. Er kann nicht unabhängig von uns existieren. Er braucht einen Hüter.«
In der Schwebe
NEW YORK, 1 . NOVEMBER 1902
A ls Bailey dieses Zelt das letzte Mal betrat, war Poppet bei ihm, und es war mit dichtem weißem Nebel gefüllt.
Damals – und Bailey kann kaum glauben, dass es erst ein paar Tage her ist – kam ihm das Zelt endlos vor. Ohne den Nebel sieht Bailey jetzt die weißen Wände des Zelts und alle Geschöpfe darin, von denen sich jedoch keines regt.
Überall im Raum hängen vollkommen still Vögel und Fledermäuse und Schmetterlinge wie an Fäden. Kein Rascheln von Papierflügeln. Nicht die geringste Bewegung.
Weitere Geschöpfe sitzen am Boden neben Baileys Füßen, unter anderem eine sprungbereite Katze vor einem weißen Fuchs mit silbriger Schwanzspitze. Auch größere Tiere sind da. Ein Zebra mit scharf voneinander abgesetzten Streifen. Ein ruhender Löwe mit schneeweißer Mähne. Ein weißer Hirsch mit hoch aufragendem Geweih.
Neben dem Hirsch steht ein Mann in einem dunklen Anzug.
Er ist fast durchsichtig, wie ein Geist oder ein Spiegelbild in Glas. Teile seines Anzugs sind nicht mehr als Schatten. Durch seinen Jackenärmel kann Bailey deutlich den Hirsch erkennen.
Bailey überlegt gerade, ob es sich um eine Phantasievorstellung handelt, als der Mann zu ihm herübersieht. Seine Augen sind erstaunlich hell, allerdings kann Bailey die Farbe nicht erkennen.
»Ich hatte sie gebeten, dich nicht auf diesem Weg zu schicken«, sagt er. »Aber es ist wohl der direkteste.«
»Wer sind Sie?«, fragt Bailey.
»Ich heiße Marco«, sagt der Mann. »Du bist vermutlich Bailey.«
Bailey nickt.
»Ich wünschte, du wärst nicht so jung«, sagt Marco. Etwas in seiner Stimme klingt zutiefst traurig, aber Bailey ist noch immer mit Marcos geistgleicher Erscheinung beschäftigt.
»Sind Sie tot?«, fragt er und tritt näher heran. Durch den neuen Blickwinkel wirkt Marco in einem Moment beinahe fest und im nächsten wieder transparent.
»Nicht direkt«, sagt Marco.
»Tsukiko sagt, sie sei die einzige lebende Person hier, die wüsste, was passiert ist.«
»Miss Tsukiko ist vermutlich nicht immer ganz ehrlich.«
»Sie sehen wie ein Geist aus«, sagt Bailey. Besser kann er es nicht beschreiben.
»Du erscheinst mir genauso, wer von uns ist also echt?«
Bailey hat keine Ahnung, wie er darauf antworten soll, deshalb stellt er die erste Frage, die ihm in den Kopf kommt.
»Ist das Ihr Bowlerhut auf dem großen Platz?«
Zu seiner Überraschung lächelt Marco.
»Ja, das ist er«, sagt er. »Ich habe ihn verloren, bevor das alles passiert ist.«
»Was ist denn passiert?«, will Bailey wissen.
Marco überlegt.
»Das ist eine ziemlich lange Geschichte.«
»Das hat Tsukiko auch gesagt«, erwidert Bailey. Er fragt sich, ob er versuchen soll, Widget aufzuspüren, damit er ihm die Geschichte von Anfang bis Ende erzählt.
»In diesem Punkt war sie ehrlich«, sagt Marco. »Tsukiko wollte mich im Feuer einsperren. Die Gründe dafür kann ich dir nicht erklären, dazu fehlt uns die Zeit, aber es gab eine Planänderung, die zu der jetzigen Situation geführt hat. Ich wurde auseinandergerissen und wieder zusammengesetzt, allerdings in einen weniger konzentrierten Zustand.«
Marco streckt die Hand aus, und Bailey berührt sie. Seine Finger bewegen sich mühelos hindurch, er spürt nur einen leichten Widerstand, als ob etwas im Weg wäre, allerdings nichts wirklich Festes.
»Das ist weder eine
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