Der Nachtzirkus
keinen triftigen Grund, warum er das Spiel nicht möglichst stark eröffnen sollte.
Das Feuer ist seine Verbindung zum Zirkus, auch wenn er nicht genau weiß, wie gut es funktionieren wird. Bei der Vielzahl von Beteiligten scheint es ihm sinnvoll, den Schauplatz zusätzlich abzusichern.
Die Vorbereitung hat Monate gedauert.
Chandresh überließ ihm die Inszenierung der Feuerzeremonie nur zu gern, nachdem er sich schon bei der Zirkusplanung unbezahlbar gemacht hatte. Ein Wink, und die Einzelheiten waren ihm überlassen.
Und die Hauptsache: Chandresh war einverstanden, dass die Feuerzeremonie ein Geheimnis bleibt. Auf diese Weise umgab sie ein Hauch von Mitternachtsdinner, bei dem keine Fragen nach Zutaten oder Speisenfolge erlaubt sind.
Es wurde verschwiegen, womit die Pfeilspitzen präpariert sind, die eine so erstaunliche Wirkung erzielen. Wie man es schafft, dass die Flammen von einer leuchtenden Farbe zur nächsten wechseln.
Wer bei den Vorbereitungen und Proben doch danach fragte, bekam zur Antwort, den Trick zu verraten verderbe den Effekt.
Aber das Wichtigste konnte Marco natürlich nicht proben.
Auf dem überfüllten Platz gelingt es ihm mühelos, sich kurz vor Mitternacht unbemerkt von Chandreshs Seite zu entfernen.
Er bahnt sich einen Weg zum schmiedeeisernen Feuerkessel und schiebt sich so nah es geht heran. Dann zieht er eine große ledergebundene Kladde aus seinem Mantel, eine haargenaue Kopie des Notizbuchs, das er sicher in seinem Büro verwahrt. Im Gewühl der Menge merkt niemand, wie er sie in den leeren Kessel wirft, wo sie mit einem dumpfen Schlag, der vom Lärm ringsum übertönt wird, am Boden landet.
Der Buchdeckel klappt auf, und der filigrane Tintenbaum liegt offen unter dem sternengesprenkelten Nachthimmel.
Als die Bogenschützen ihre Plätze einnehmen, bleibt Marco dicht am gezwirbelten Eisengestell stehen.
Trotz des Zuschauergedränges konzentriert er sich ganz auf das in einem Regenbogen von Farben auflodernde Feuer.
Als der letzte Pfeil sein Ziel trifft, schließt Marco die Augen. Die weißen Flammen glühen rot durch seine Lider.
*
Celia hatte eigentlich erwartet, dass sie sich bei ihren ersten Auftritten wie ein Abklatsch ihres Vaters vorkommen würde, doch zu ihrer Erleichterung sind ihre Vorstellungen himmelweit von dem entfernt, was sie früher in so vielen Theatern gesehen hatte.
Das Zelt ist klein und intim, die Zahl der Zuschauer überschaubar, so dass sie nicht zu einer anonymen Masse verschmelzen.
Es gelingt ihr, jede Vorstellung anders zu gestalten, indem sie die Abfolge ihres Programms auf die Publikumsreaktion abstimmt.
Obwohl die Auftritte ihr mehr Spaß bereiten, als sie gedacht hätte, genießt sie zwischendurch die Pausen. Kurz vor Mitternacht beschließt sie, sich einen Platz zu suchen, an dem sie unauffällig das Entfachen des Zirkusfeuers beobachten kann.
Doch auf dem Weg durch den Bereich, der trotz fehlender Bühne als »hinter den Kulissen« bezeichnet wird, gerät sie prompt in das geordnete Chaos um die bevorstehende Geburt der Murray-Zwillinge.
Eine Gruppe von Artisten und Mitarbeitern hat sich versammelt und wartet angespannt. Den Arzt scheint die ganze Situation zu befremden. Die Schlangenfrau kommt und geht wieder. Aidan Murray läuft unruhig auf und ab wie seine Raubkatzen.
Celia versucht, sich nützlich zu machen, indem sie den anderen Tee bringt und ihnen auf möglichst originelle Art versichert, dass schon alles gutgehen wird.
Sie fühlt sich an die Zeit erinnert, in der sie als Medium ihre Klienten getröstet hat, nur mit dem Unterschied, dass sie damals niemand mit ihrem Namen angesprochen hat.
Kurz vor Mitternacht ertönt ein leises Schreien, das Erleichterung auslöst und mit Seufzern und Jubel begrüßt wird.
Unmittelbar darauf geschieht noch etwas.
Celia spürt es, bevor sie den Applaus vom Platz herüberbranden hört – die Veränderung, die durch den Zirkus geht wie eine Welle.
Sie durchfährt ihren Körper und jagt ihr einen Schauer über den Rücken, der sie beinahe umwirft.
»Ist alles in Ordnung?«, fragt eine Stimme hinter ihr, und als sie sich umdreht, legt Tsukiko ihr stützend eine warme Hand auf den Arm. Der wissende Blick in den Augen der Schlangenfrau ist Celia allmählich vertraut.
»Ja, vielen Dank«, antwortet Celia nach Luft ringend.
»Du bist ein empfindsamer Mensch«, sagt Tsukiko. »Da ist es nicht ungewöhnlich, wenn so ein Ereignis dich mitnimmt.«
Von nebenan ertönt ein weiteres Schreien und
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