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Der Nachtzirkus

Der Nachtzirkus

Titel: Der Nachtzirkus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erin Morgenstern
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vorbei an den Ästen seiner Schwester und ihrer Freunde. Das ist Millies Ast, denkt er, als sein Fuß ihn berührt. Ein Gefühl der Befriedigung überkommt ihn, als er Carolines Ast unter sich lässt, selbst nach all den Jahren. Umgeben von im Wind raschelnden Blättern setzt Bailey sich an seinen Lieblingsplatz, in der Nähe der fast vergessenen Schatzschatulle.
    Als er irgendwann später von seinem Buch aufblickt, ist er vom Anblick der schwarzweiß gestreiften Zelte auf der Wiese so erschrocken, dass er fast vom Baum fällt.

TEIL II
    BELEUCHTUNG
    Flammen, Laternen, Sterne – so vieles schimmert und glitzert im Le Cirque des Rêves. Im Zusammenhang mit seinen Sehenswürdigkeiten habe ich so oft den Ausdruck »Beleuchtungstrick« gehört, dass ich manchmal den Verdacht hege, der gesamte Zirkus könnte eine einzige, komplexe Lichtillusion sein.
    – Friedrick Thiessen, 1894

Eröffnungsnacht I: Beginn
    LONDON, 13 . UND 14 . OKTOBER 1886
    D er Eröffnungstag, oder vielmehr die Eröffnungsnacht, ist spektakulär. Alles ist bis ins Letzte geplant, und vor dem Tor versammelt sich schon weit vor Sonnenuntergang eine gewaltige Menschenmenge. Als sie endlich eingelassen wird, strömen die Leute mit staunendem Blick herein, und von Zelt zu Zelt werden ihre Augen größer.
    Alle Zirkuselemente verbinden sich zu einem wunderbaren Ganzen. Artisten, die in verschiedenen Ländern auf unterschiedlichen Kontinenten geprobt haben, treten nun in benachbarten Zelten auf. Jedes Kostüm, jede Geste, jedes Schild ist perfekter als das vorherige.
    Selbst die Luft ist ideal, klar und frisch, erfüllt von Düften und Klängen, die alle Besucher verführen und verzaubern.
    Um Mitternacht wird feierlich das Feuer entfacht, wo zuvor nur eine schlichte schmiedeeiserne Skulptur zu sehen war. Zwölf Feuerkünstler betreten leise den runden Platz und stellen ringsum kleine Podeste auf, wie Ziffern auf einer Uhr. Genau eine Minute vor der vollen Stunde besteigen sie ihr Podest und ziehen einen glänzend schwarzen Pfeil und Bogen vom Rücken. Dreißig Sekunden vor Mitternacht entzünden sie die Pfeilspitzen mit tanzenden gelben Flämmchen. Wer sie vorher in der Menge nicht bemerkt hat, schaut ihnen nun verwundert zu. Um zehn Sekunden vor zwölf erheben sie die Bogen und richten die brennenden Pfeile auf das Gefäß aus Eisenschnörkeln. Als die Uhr am Tor zu schlagen beginnt, schießt der erste Bogenschütze seinen Pfeil ab. Mit einem Funkenregen fliegt er hoch über die Menge hinweg und trifft sein Ziel.
    Gelb lodernd entflammt das Feuer.
    Dann folgt der zweite Schlag, der zweite Schütze schickt seinen Pfeil in die gelben Flammen, und sie sind licht himmelblau.
    Ein dritter Schlag und ein dritter Pfeil, und sie leuchten warmrosa.
    Wie ein reifer Kürbis färbt sich das Feuer nach dem vierten Pfeil.
    Ein fünfter, und es brennt scharlachrot.
    Der sechste lässt es tiefpurpurn funkeln.
    Sieben, und die Flammen sind in glühendes Weinrot getränkt.
    Acht, und sie schimmern violett.
    Neun, Violett wird zu Indigo.
    Ein zehnter Schlag, ein zehnter Pfeil, und das Feuer ist tiefstes Nachtblau.
    Der vorletzte Schlag verwandelt das Blau der tanzenden Flammen in Schwarz, und in diesem Augenblick sind sie nur schwer vom Kessel zu unterscheiden.
    Dann ertönt der letzte Schlag, und ein gleißendes Weiß ersetzt die dunklen Flammen. Funken stöbern wie Schneeflocken um sie her, und dichte weiße Rauchfahnen kräuseln sich in den Nachthimmel hinauf.
    Die Menge reagiert stürmisch. Zuschauer, die eigentlich schon gehen wollten, bleiben nun doch etwas länger und schwärmen begeistert von der Feuerzeremonie. Wer sie nicht mit eigenen Augen gesehen hat, kann die kurz darauf und noch Stunden später erzählten Geschichten kaum glauben.
    Auf verschlungenen, scheinbar endlosen Pfaden wandern die Leute von Zelt zu Zelt. Manche betreten jedes, an dem sie vorüberkommen, andere sind wählerischer und studieren erst eingehend die Schilder, bevor sie sich für einen Besuch entscheiden. Einige sind so fasziniert von einem Zelt, dass sie nicht wieder gehen können und deshalb die ganze Zeit dort bleiben. Auf den Gängen empfehlen Besucher sich im Vorübergehen bemerkenswerte Zelte, in denen sie selbst schon waren. Ihr Rat wird stets gern angenommen, auch wenn die Beratenen oft von anderen Zelten abgelenkt werden, bevor sie die empfohlenen finden.
    Als die Morgendämmerung heraufzieht, sind die verbliebenen Besucher nur schwer zum Gehen zu bewegen und allein durch

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