Der Nachtzirkus
Beteuerungen zu vertrösten, dass sie bei Sonnenuntergang zurückkehren dürfen.
Alles in allem ist die Eröffnungsnacht ein voller Erfolg.
Es passiert nur ein kleines Malheur, wenn man so will, ein unerwarteter Zwischenfall. Kein Besucher bekommt davon etwas mit, und auch viele Artisten erfahren es erst im Nachhinein.
Kurz vor Sonnenuntergang, als die letzten Vorbereitungen getroffen werden (Kostüme in Ordnung gebracht, Zucker karamellisiert), setzen bei der Frau des Raubkatzenbändigers überraschend die Wehen ein. Wenn sie nicht in anderen Umständen ist, assistiert sie ihrem Mann. Die Dompteurnummer wurde für die Zeit ohne sie leicht abgeändert, aber die Katzen scheinen unruhig zu sein.
Sie erwartet Zwillinge, aber eigentlich erst in ein paar Wochen. »Vielleicht wollten sie die Eröffnung nicht verpassen«, scherzen die Leute später.
Vor Einlass des Publikums wird ein Arzt zum Zirkus geholt und zur Entbindung diskret hinter die Kulissen geführt (was leichter zu meistern ist, als die Schwangere ins Krankenhaus zu schaffen).
Sechs Minuten vor Mitternacht wird Winston Aidan Murray geboren.
Sieben Minuten nach Mitternacht folgt seine Schwester, Penelope Aislin Murray.
Als man Chandresh Christophe Lefèvre die Nachricht überbringt, ist er etwas enttäuscht, dass es keine eineiigen Zwillinge sind. Er hatte sich schon mehrere Nummern ausgedacht, die sie im passenden Alter hätten aufführen können. Zweieiige Zwillinge haben für ihn nicht den nötigen Schaueffekt, aber er lässt Marco trotzdem zwei Riesensträuße roter Rosen schicken.
Es sind winzige Wesen, jedes mit überraschend vollem rotem Haar. Sie weinen kaum, schauen wach aus den gleichen großen blauen Augen. Beide sind in Seiden- und Satinstoffe gehüllt, sie in Weiß und er in Schwarz.
Ein steter Strom von Zirkuskünstlern besucht sie in den Pausen, hält sie der Reihe nach im Arm und macht unweigerlich eine Bemerkung zu ihrem exzellenten Sinn für den richtigen Zeitpunkt. Geborene Zirkuskinder, sagen alle, nur die Haare … Jemand schlägt vor, ihnen Mützen aufzusetzen, bis sie alt genug zum Färben sind. Jemand anders meint, es wäre grotesk, solche Haare zu färben, ein noch viel leuchtenderes Rot als das Kastanienhaar ihrer Mutter.
»Die Farbe verheißt Glück«, sagt Tsukiko, weigert sich aber, es näher auszuführen. Sie küsst die Zwillinge auf die Stirn und bastelt später Ketten aus gefalteten Papierkranichen für die Wiege.
Gegen Morgengrauen, als der Zirkus sich leert, werden sie spazieren getragen, um die Zelte und zum Platz in der Mitte. Eigentlich soll sie das in den Schlaf wiegen, aber sie bleiben wach und schauen sich die Lichter und Kostüme und Streifen auf den Zelten ringsum an, sonderbar aufmerksam dafür, dass sie erst ein paar Stunden alt sind.
Erst als die Sonne aufgeht, schließen sie endlich die Augen, Seite an Seite in der schmiedeeisernen schwarzen Wiege mit den gestreiften Decken, die trotz ihrer verfrühten Ankunft schon auf sie wartet. Sie wurde ein paar Wochen zuvor als Geschenk geliefert, ohne Karte oder Nachricht. Die Murrays nahmen an, sie sei ein Geschenk von Chandresh, aber als sie ihm dankten, hatte er keine Ahnung, wovon sie sprachen.
Die Zwillinge aber fühlen sich darin wohl, trotz der ungeklärten Herkunft.
Später weiß niemand mehr genau, wer sie Poppet und Widget getauft hat. Wie schon bei der Wiege zeichnet niemand verantwortlich dafür.
Aber die Spitznamen bleiben an ihnen hängen, wie das bei Spitznamen so ist.
Eröffnungsnacht II: Funken
LONDON, 13 . UND 14 . OKTOBER 1886
M arco schielt den ganzen Abend auf seine Taschenuhr und wartet ungeduldig, dass die Zeiger auf Mitternacht springen.
Die verfrühte Ankunft der Murray-Zwillinge hat seinen Zeitplan durcheinandergebracht, aber ihm genügt es, wenn die Feuerzeremonie nach Plan verläuft.
Es war die beste Lösung, die ihm eingefallen ist, denn in ein paar Wochen wird der Zirkus Hunderte Kilometer entfernt sein, und er bleibt allein in London zurück.
Auch wenn Isobel ihm nützlich sein sollte, braucht er ein stärkeres Band.
Seit er den Schauplatz des Wettstreits kennt, hat er zunehmend mehr Verantwortung für den Zirkus übernommen. Er hat immer mehr getan, als Chandresh von ihm verlangte, bis er schließlich völlig freie Hand bekam – vom Absegnen der Torgestaltung bis zur Bestellung des Zeltleinens.
Die Reichweite des Bindezaubers beunruhigt ihn, denn etwas in dieser Größenordnung hat er noch nie ausprobiert. Aber er sieht
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