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Der Nachtzirkus

Der Nachtzirkus

Titel: Der Nachtzirkus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erin Morgenstern
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möglichst weit entfernt von seinem Vater.
    Dann flüchtet er sich in lange Spaziergänge, über Wiesen und Wälder und Friedhöfe.
    Er wandert an Gräbern von Philosophen und Dichtern vorbei, Schriftstellern, deren Bücher er aus der Bibliothek seiner Großmutter kennt. Daneben stehen zahllose Grabsteine mit unbekannten Namen, wieder andere sind durch Zeit und Witterung unlesbar geworden, ihre Eigentümer längst vergessen.
    Obwohl er nie ein festes Ziel vor Augen hat, enden seine Streifzüge fast immer bei der alten Eiche, in der er früher so oft mit Caroline und ihren Freunden saß.
    Inzwischen kann er mühelos in die obersten Äste klettern. Dort herrscht ausreichend Schatten, um sich geschützt zu fühlen, und doch genug Licht zum Lesen, wenn er Bücher mitbringt, was ihm bald zur Gewohnheit wird.
    Er liest Märchen, Sagen und Legenden und fragt sich, warum immer nur Mädchen von Rittern, Prinzen oder Wölfen dem Alltag ihres bäuerlichen Daseins entrissen werden. Er findet es ungerecht, dass ihm diese phantastische Möglichkeit verwehrt bleibt. Und selbst den Retter zu spielen, ist er nicht in der Lage.
    Während er stundenlang beobachtet, wie die Schafe ziellos über die Weiden ziehen, wünscht er sich sogar, jemand käme vorbei und nähme ihn mit, aber sich beim Anblick von Schafen etwas zu wünschen funktioniert offenbar genauso wenig wie beim Anblick von Sternschnuppen.
    Er redet sich ein, dass es im Grunde kein schlechtes Leben und eigentlich nicht schlimm ist, Farmer zu sein.
    Doch das Unbehagen bleibt. Selbst der Boden unter seinen Füßen fühlt sich unbefriedigend an.
    Und so sucht er weiter Zuflucht bei seinem Baum.
    Damit es wirklich sein Baum wird, holt er sogar die alte Holzschatulle mit seinen wertvollsten Habseligkeiten unter seinem Bett hervor und verstaut sie in einer Nische in der Eiche, einer großen Vertiefung, die kein richtiges Loch ist, aber sie ist sicher und erfüllt ihren Zweck.
    Die Schatulle ist ziemlich klein, hat matte Messingbeschläge und ist eingewickelt in ein Stück Sackleinen, um sie vor Wind und Wetter zu schützen; sie sitzt so fest, dass selbst die findigsten Eichhörnchen sie bisher nicht von der Stelle bewegen konnten.
    Sie enthält eine gesprungene Pfeilspitze, die er als Fünfjähriger auf einer Wiese fand, einen Stein mit einem Loch in der Mitte, der angeblich Glück bringen soll. Eine schwarze Vogelfeder. Einen Glitzerstein, der laut seiner Mutter irgendein Quarz ist. Eine Münze, die von seinem ersten, nie ausgegebenen Taschengeld stammt. Das braune Lederhalsband, das dem Haushund gehörte; er starb, als Bailey neun war. Ein einzelner weißer Handschuh, der durch die jahrelange Aufbewahrung zusammen mit Steinen in der kleinen Schatulle inzwischen ganz grau geworden ist.
    Und mehrere von Hand beschriebene Papierblätter, vergilbt und zusammengefaltet.
    Nach der Abreise des Zirkus hatte Bailey alles aufgeschrieben, woran er sich erinnern konnte, damit es nicht in Vergessenheit geriet. Das Popcorn mit Schokoladenüberzug. Das Zelt, in dem auf runden Podesten Kunststücke mit gleißend hellem Feuer vorgeführt wurden. Die sich verwandelnde Zauberuhr gegenüber dem Kassenhäuschen, die so viel mehr konnte als nur die Zeit anzeigen.
    Er listete jede Einzelheit in zittriger Schrift auf, konnte sich aber nicht dazu überwinden, seine Begegnung mit dem rothaarigen Mädchen festzuhalten. Er hatte nie jemandem von ihr erzählt. Bei den beiden folgenden nächtlichen Zirkusbesuchen hatte er nach ihr gesucht, sie aber nicht gefunden.
    Dann war der Zirkus fort, so plötzlich verschwunden, wie er aufgetaucht war, flüchtig wie ein Traum.
    Und er kam nicht mehr zurück.
    Der einzige Beweis, dass es das Mädchen überhaupt gab und es keine Kopfgeburt war, ist der Handschuh.
    Doch Bailey öffnet die Schatulle nicht mehr. Sie befindet sich fest verschlossen im Baum.
    Manchmal überlegt er, ob er sie wegwerfen soll, doch das bringt er nicht übers Herz.
    Vielleicht lässt er sie im Baum, bis Rinde darüberwächst und sie im Inneren versiegelt.
    *
    Es ist ein grauer Samstagmorgen, und wie so oft steht Bailey vor dem Rest der Familie auf. Er erledigt schnell seine Aufgaben, packt ein Buch und einen Apfel in seine Tasche und macht sich auf den Weg zu seinem Baum. Unterwegs fällt ihm ein, dass er vielleicht einen Schal hätte umbinden sollen, aber tagsüber wird es sicher noch wärmer. Mit diesem tröstlichen Gedanken klettert er über die Stelle hinaus, auf die er früher verbannt war,

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