Der Nachtzirkus
Zusammenkünfte ohne das ansteckende Gekicher der Burgess-Schwestern noch stattfinden würden. Tara und Lainie stellen immer die richtigen Fragen, um die Unterhaltung in Gang zu halten, und wenden jedwede Flaute ab.
Mr Barris wiederum ist der perfekte Gegensatz – seine ernste Aufmerksamkeit hält die Gruppendynamik im Gleichgewicht.
Plötzlich fällt Celia eine Bewegung im Flur auf, die alle anderen wohl auf eine Reflexion der vielen Kerzen oder Spiegel zurückführen, sie aber erkennt die Ursache sofort.
Unbemerkt tritt sie in den Flur und huscht in die schummrige Bibliothek auf der anderen Seite des Salons. Erhellt wird sie nur durch eine Buntglastafel, die sich als leuchtender Sonnenuntergang über eine Wand erstreckt und warmes Licht über die nächsten Regale ergießt. Der Rest des Raums liegt im Halbdunkel.
»Darf ich mich nicht einen Abend lang amüsieren? Musst du mich immer verfolgen?«, flüstert Celia in die Dunkelheit.
»Ich glaube nicht, dass solche Zusammenkünfte ein sinnvoller Zeitvertreib sind«, erwidert ihr Vater. Das Sonnenuntergangslicht wirft einen warmen verzerrten roten Balken auf sein Gesicht und vorn auf sein Hemd.
»Du hast mir nicht vorzuschreiben, wie ich meine Zeit verbringe, Papa.«
»Du verlierst deine Konzentration«, antwortet Hector.
»Die kann ich gar nicht verlieren«, sagt Celia. »Ich arbeite an neuen Zelten mit, verschönere vieles und kontrolliere dadurch einen beträchtlichen Teil des Zirkus. Der im Augenblick übrigens geschlossen ist, falls dir das entgangen ist. Und je besser ich diese Leute kenne, umso besser kann ich ihr Werk beeinflussen. Immerhin haben sie es geschaffen.«
»Wahrscheinlich hast du recht«, sagt Hector. Celia vermutet, dass er trotz dieses Eingeständnisses finster vor sich hin blickt, auch wenn sie es wegen der Dunkelheit nicht sieht. »Aber vergiss lieber nicht, dass du keinen Grund hast, irgendwem in diesem Raum zu trauen.«
»Lass mich in Ruhe, Papa«, erwidert Celia und seufzt.
»Miss Bowen?«, sagt eine Stimme hinter ihr. Sie dreht sich um und ist überrascht, dass Chandreshs Assistent in der Tür steht und sie beobachtet. »Das Essen wird gleich serviert, wenn Sie bitte zu den anderen Gästen ins Speisezimmer kommen möchten.«
»Ich bitte um Entschuldigung«, sagt Celia. Ihr Blick schweift noch einmal ins Dunkel, aber ihr Vater ist verschwunden. »Die große Bibliothek hat mich ein bisschen abgelenkt. Ich hätte nicht gedacht, dass mein Fehlen jemandem auffallen würde.«
»Das wäre es ganz bestimmt«, sagt Marco. »Aber mich hat die Bibliothek auch schon oft abgelenkt.«
Auf das charmante Lächeln, mit dem er seine Worte begleitet, ist Celia nicht gefasst, denn bislang hat sie in seiner Miene meist nur diverse Grade zurückhaltender Aufmerksamkeit oder gelegentlicher Nervosität entdeckt.
»Danke, dass Sie mich holen kommen«, sagt sie und hofft, dass Gäste, die Selbstgespräche führen, während sie bei schlechtem Licht angeblich Bücher durchblättern, im Hause Lefèvre nichts Ungewöhnliches sind.
»Bestimmt meinen alle, Sie hätten sich in Luft aufgelöst«, erwidert Marco, als sie durch den Flur gehen. »Ich dachte, das sei vielleicht nicht der Fall.«
Er hält jede Tür für sie auf, während er sie zum Speisezimmer geleitet.
Celia wird zwischen Chandresh und Tsukiko gesetzt.
»Das ist doch besser, als den Abend allein zu verbringen, oder?«, fragt Tsukiko und lächelt, als Celia ihr recht gibt.
Wenn Celia bei den einzelnen Gängen nicht vom verblüffend guten Essen abgelenkt ist, macht sie ein Spiel daraus, die Beziehungen zwischen den Gästen zu entschlüsseln. Sie achtet darauf, wie sie miteinander umgehen, erahnt die Gefühle, die in ihrem Lachen und ihren Gesprächen mitschwingen, und beobachtet, wo die einzelnen Blicke verweilen.
Chandreshs Augenmerk auf seinen gutaussehenden Assistenten wird mit jedem Glas Wein offensichtlicher, und Celia vermutet, dass Marco sich dessen sehr wohl bewusst ist, auch wenn er eine stumme Randfigur bleibt.
Drei Gänge dauert es, bis sie herausgefunden hat, welche Burgess-Schwester Mr Barris bevorzugt, aber beim Eintreffen der raffiniert angerichteten zimtgewürzten Täubchen ist Celia sich ganz sicher, auch wenn sie nicht sagen kann, ob Lainie selbst es weiß.
Mme. Padva wird von allen »Tante« genannt, wobei sie eher eine Matriarchin ist als nur eine Tante. Als Celia sie mit »Madame« anspricht, sehen sie alle erstaunt an.
»Wie sittsam für ein Zirkusmädchen«, sagt
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