Der Nachtzirkus
anfangs nur scherzhaft benutzt, aber weil er so passend ist, bleibt er haften.
Herr Thiessen genießt es enorm, von Gleichgesinnten aus ganz Europa und manchmal von noch weiter her umgeben zu sein, Menschen, die endlos über den Zirkus reden. Er schreibt die Geschichten anderer rêveurs um und arbeitet sie in seine Notizen ein. Er fertigt kleine Andenkenuhren für sie, auf denen ihre bevorzugten Darbietungen und Artisten dargestellt sind. (Eine der Uhren ist ein Wunderwerk von winzigen, an Bändern fliegenden Akrobaten, gefertigt für eine junge Frau, die den Großteil ihrer Zirkusbesuche mit nach oben gerichtetem Blick im betreffenden Zelt verbringt.)
Er setzt sogar, wenn auch unfreiwillig, einen Modetrend unter den rêveurs in Gang. Bei einem Dinner in München – wo viele Dinner in der Nähe seiner Wohnung stattfinden, obwohl es sie auch in London und Paris und vielen anderen Städten gibt – erzählt er, dass er bei seinen Zirkusbesuchen gern einen schwarzen Mantel trage, um besser mit der Umgebung zu harmonieren und sich als Teil vom Zirkus zu fühlen. Dazu trage er jedoch einen Schal in leuchtendem Purpurrot, um sich zugleich vom Zirkus abzusetzen und zu zeigen, dass er im Grunde genommen ein Zuschauer, ein Beobachter ist.
In derlei ausgesuchten Kreisen verbreiten sich Neuigkeiten wie ein Lauffeuer, und so etabliert sich unter den rêveurs die Tradition, bei Besuchen im Cirque des Rêves Schwarz, Weiß oder Grau mit einem einzigen Tupfer Rot zu tragen: ein Schal, ein Hut oder, wenn es warm ist, eine ans Revers oder hinters Ohr gesteckte rote Rose. Dies ist auch sehr hilfreich, um andere rêveurs zu erkennen, ein schlichtes Signal für alle Eingeweihten.
Einige rêveurs verfügen über genügend finanzielle Mittel und folgen dem Zirkus von einem Ort zum nächsten; andere sind nicht so betucht, aber es gelingt ihnen trotzdem. Es gibt keine feste, öffentlich bekannte Reiseroute. Alle paar Wochen zieht der Zirkus um, und manchmal gibt es zwischendurch eine längere Pause, aber niemand weiß, wo er als Nächstes auftauchen könnte, bis die Zelte plötzlich auf der Wiese stehen – in einer Stadt, auf dem Land oder irgendwo dazwischen.
Aber es gibt ein paar wenige Leute, ausgewählte rêveurs , die mit dem Zirkus und seinen Gepflogenheiten vertraut sind. Sie haben mit den Akteuren Bekanntschaft geschlossen und werden über die kommenden Stationen informiert. Und sie wiederum informieren andere, in anderen Ländern und Städten.
Die gängigste Methode jedoch ist subtil und erfolgt persönlich oder per Post.
Man schickt sich Karten – kleine rechteckige, fast wie Postkarten, auf einer Seite schwarz, auf der anderen weiß. Manche verwenden richtige Postkarten, andere basteln lieber eigene. Auf den Karten steht nur:
Der Zirkus kommt …
Und dann folgt eine Ortsangabe. Manchmal auch ein Datum, aber nicht immer. Die Ankündigung läuft eher über Andeutungen als genaue Details. Oft aber genügen schon Benachrichtigung und Ort.
Die meisten rêveurs haben einen festen Wohnsitz und meiden weite Strecken. Rêveurs aus Kanada etwa reisen vielleicht nicht unbedingt nach Russland, nehmen aber ohne weiteres einen längeren Aufenthalt in Boston oder Chicago in Kauf, während marokkanische rêveurs viele Ziele in Europa aufsuchen, nicht aber im fernen China oder Japan.
Einige allerdings folgen dem Zirkus überallhin, sei es mit Hilfe von Geld, Glück oder großzügigen Gefälligkeiten anderer rêveurs . Aber sie alle sind rêveurs , jeder auf seine eigene Weise, selbst jene, die den Zirkus nur besuchen können, wenn er zu ihnen kommt. Sie lächeln, wenn sie sich erkennen. Sie treffen sich zum Plausch bei einem Drink in einem Lokal, während sie ungeduldig auf den Sonnenuntergang warten.
Diese Liebhaber, diese rêveurs, haben ein Auge für die Details im Gesamtkunstwerk. Sie sehen die Finesse der Kostüme, die Raffiniertheit der Schilder. Die Zuckerblumen, die sie kaufen, essen sie nicht, sondern wickeln sie in Papier und nehmen sie vorsichtig mit nach Hause. Sie sind Enthusiasten, Verehrer. Süchtige. Der Zirkus hat etwas an sich, das ihre Seelen berührt und nach dem sie sich sehnen, sobald er fort ist.
Sie spüren sich gegenseitig auf, diese Gleichgesinnten. Sie erzählen einander, wie sie auf den Zirkus gestoßen sind, wie ihre ersten wenigen Schritte einem Zauber glichen. Als würden sie unter einem Sternenvorhang in ein Märchen treten. Sie lassen sich über das flockenzarte Popcorn aus, die unheimlich süße
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