Der Nachtzirkus
Notizbuch, kehrt aber immer wieder zu der Seite mit dem Baum zurück.
»Aber wenn ihr beide ständig eure Waagschale auffüllt und das Gewicht auf jeder Seite zunimmt«, sagt Isobel mit einem Blick auf die sanft schaukelnde Waage, »zerbricht sie dann nicht irgendwann?«
»Der Vergleich hinkt vielleicht ein bisschen«, sagt Marco, und die Waage verschwindet.
Isobel betrachtet stirnrunzelnd die leere Stelle.
»Und wie lange soll das weitergehen?«, fragt sie.
»Keine Ahnung«, sagt Marco. »Möchtest du aussteigen?« Unsicher, welche Antwort er sich wünscht, sieht er Isobel an.
»Nein«, sagt sie. »Ich … ich will nicht aussteigen. Mir gefällt es hier, wirklich. Aber ich möchte das Ganze gern verstehen. Wenn ich es besser verstehen würde, könnte ich dir eine größere Hilfe sein.«
»Du bist mir schon eine Hilfe«, sagt Marco. »Mein einziger Vorteil ist vielleicht, dass sie nicht weiß, wer ich bin. Sie kann nur auf den Zirkus reagieren, und ich habe dich, um sie zu beobachten.«
»Aber bis jetzt habe ich noch keine Reaktion gesehen«, sagt Isobel. »Sie bleibt immer für sich. Ich kenne niemanden, der so viel liest. Die Murray-Zwillinge vergöttern sie. Zu mir ist sie immer nur freundlich gewesen. Außer bei ihren Auftritten habe ich sie noch nie etwas Ungewöhnliches tun sehen. Woher willst du wissen, dass dieser Baum nicht das Werk von Ethan Barris ist?«
»Mr Barris erfindet zwar beeindruckende mechanische Geräte, aber das ist nicht sein Werk. Sein Karussell hat sie allerdings verschönert, da bin ich mir sicher. Selbst ein so begabter Ingenieur wie Mr Barris kann einen Greif aus bemaltem Holz nicht zum Atmen bringen. Und dieser Baum ist in der Erde verwurzelt, das ist ein lebendiger Baum, auch wenn er keine Blätter hat.«
Marco wendet sich wieder seiner Zeichnung zu und fährt mit den Fingern die Konturen des Baums entlang.
»Hast du dir etwas gewünscht?«, fragt Isobel leise.
Marco schließt, ohne zu antworten, sein Notizbuch.
»Tritt sie immer noch um Viertel nach auf?« Er zieht eine Uhr aus seiner Tasche.
»Ja, aber … willst du dich in ihre Vorstellung setzen?«, fragt Isobel. »In ihrem Zelt ist kaum Platz für zwanzig Leute, da erkennt sie dich bestimmt. Meinst du nicht, sie wird misstrauisch, wenn sie dich hier sieht?«
»Sie wird mich nicht erkennen«, sagt Marco. Die Uhr verschwindet aus seiner Hand. »Ich wäre dir dankbar, wenn du mir Bescheid gibst, wenn wieder ein neues Zelt auftaucht.«
Er dreht sich um und geht so schnell davon, dass die Kerzen im Luftzug flackern.
»Du fehlst mir«, sagt Isobel, aber ihre Worte gehen im Prasseln des Perlenvorhangs unter, der sich hinter ihm schließt.
Sie hüllt ihr Gesicht wieder in den schwarzen Schleier.
*
Nachdem ihr letzter Kunde in den frühen Morgenstunden gegangen ist, holt Isobel ihr Tarot de Marseille aus der Tasche. Sie hat es immer bei sich, obwohl sie für die Sitzungen im Zirkus einen anderen Kartensatz verwendet, einen speziell angefertigten in Schwarzweiß und Grautönen.
Sie zieht eine Karte und weiß schon vor dem Umdrehen, welche es ist. Der vorne abgebildete Engel bestätigt nur, was sie längst vermutet.
Sie steckt sie nicht zu den anderen Karten zurück.
Atmosphäre
LONDON, SEPTEMBER 1891
D er Zirkus ist in der Nähe von London angekommen, kurz nach Einbruch der Nacht rollt der Zug unbemerkt ein. Die Wagen fallen auseinander, Türen und Gänge gleiten beiseite und bilden geräuschlos Ketten von fensterlosen Räumen. Um sie herum spannt sich gestreiftes Zeltleinen, abgewickelte Seile werden straff, und hinter sorgfältig aufgehängten Vorhängen bauen sich Podeste auf.
(Die Zirkusartisten nehmen an, dass ein Arbeitstrupp dieses Kunststück vollbringt, während sie ihre Koffer auspacken, wobei einige Verwandlungsphasen eindeutig automatisiert sind. Früher war das einmal der Fall, aber jetzt gibt es keinen Arbeitstrupp mehr, keine unsichtbaren Bühnenhelfer, die Kulissenteile an den richtigen Platz schaffen. Sie sind nicht mehr notwendig.)
Die Zelte ragen ruhig in die Dunkelheit empor, denn für das Publikum wird der Zirkus erst am folgenden Abend geöffnet.
Während die meisten Artisten den Abend in der Stadt bei alten Freunden oder in ihren liebsten Pubs verbringen, sitzt Celia Bowen allein in ihrer Suite hinter den Kulissen.
Ihre Zimmer sind bescheiden im Vergleich zu den anderen hinter den Zirkuszelten versteckten, aber sie sind voll mit Büchern und abgewetzten Möbeln. Auf jeder freien Fläche
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