Der Nachtzirkus
Mme. Padva verschmitzt. »Wenn wir Sie als intimen Gast behalten wollen, werden wir die Korsettschnüre ein bisschen lockern müssen.«
»Ich dachte, das Korsett wird erst nach dem Essen gelockert«, sagt Celia freundlich und erntet einen Chor von schallendem Gelächter.
»Wir behalten Miss Bowen als intimen Gast, egal wie straff ihr Korsett sitzt«, sagt Chandresh. »Notiere das«, befiehlt er Marco mit einem Handzeichen.
»Miss Bowens Korsett ist ordnungsgemäß notiert«, erwidert Marco, und wieder ertönt am Tisch herzhaftes Gelächter.
Marco begegnet Celias Blick mit einem ähnlichen Lächeln wie vorhin im Flur, dann dreht er sich um und verschwindet fast ebenso unbemerkt im Hintergrund wie ihr Vater in der dunklen Bibliothek.
Als der nächste Gang kommt, nimmt Celia wieder ihre Rolle als zuhörende Beobachterin ein und versucht nebenbei herauszufinden, ob das in einer federleichten Teighülle und köstlicher Weinsauce verborgene Fleisch tatsächlich Lamm ist oder etwas Exotischeres.
Taras Verhalten stört Celia irgendwie. Ihr Ausdruck hat immer wieder etwas beinah Gehetztes. Eben noch beteiligt sie sich rege an der Unterhaltung und stimmt in das Lachen ihrer Schwester ein, und im nächsten Moment starrt sie durch die tropfenden Kerzen, als wäre sie ganz weit weg.
Erst als ihr Lachen sich kurz anhört wie ein Schluchzen, geht Celia auf, dass Tara sie an ihre Mutter erinnert.
Das Dessert lässt die Unterhaltung völlig verstummen. Auf jedem Teller liegen aus Zucker geblasene hauchdünne Kugeln, die man aufbrechen muss, um an die wolkige Creme im Innern zu kommen.
Nach dem geräuschvollen Zersplittern des Zuckers stellen die Speisenden bald fest, dass jede der äußerlich gleich aussehenden Kugeln eine Füllung mit einzigartigem Aroma hat.
Löffel werden hin und her gereicht. Manches schmeckt eindeutig nach Ingwer und Pfirsich oder Curry und Kokosnuss, anderes dagegen bleibt ein köstliches Geheimnis.
Celias Füllung ist unverkennbar Honig, aber mit einer Gewürzmischung unter der Süße, die niemand benennen kann.
Nach dem Essen wird die Unterhaltung bei Kaffee und Brandy im Salon so lange fortgesetzt, bis die meisten Gäste es reichlich spät finden, worauf Tsukiko erwidert, für sie als Zirkusmädchen sei es noch vergleichsweise früh.
Bei der sich anschließenden Verabschiedung wird Celia umarmt wie alle anderen und erhält mehrere Einladungen zum Tee, solange der Zirkus noch in London ist.
»Vielen Dank«, sagt sie auf dem Rückweg zu Tsukiko. »Es hat mir mehr Spaß gemacht, als ich gedacht hätte.«
»Die schönsten Freuden sind immer die, mit denen man nicht rechnet«, erwidert Tsukiko.
*
Marco verfolgt den Aufbruch der Gäste vom Fenster aus und erhascht noch einen letzten Blick auf Celia, bevor sie in die Nacht entschwindet.
Er dreht eine Runde durch Salon und Speisezimmer und überprüft, ob unten in den Küchenräumen alles in Ordnung ist. Die übrigen Bediensteten sind bereits gegangen. Nachdem er die letzten Lichter gelöscht hat, steigt er mehrere Treppen hoch, um nach Chandresh zu sehen.
»War das nicht wieder ein brillanter Abend heute?«, fragt Chandresh, als Marco seine die gesamte fünfte Etage einnehmende Suite betritt. Jedes Zimmer wird von marokkanischen Laternen erhellt, die gebrochenes Licht auf die feudalen Möbel werfen.
»Ja, in der Tat«, antwortet Marco.
»Ein Glück, dass morgen nichts auf dem Programm steht. Oder heute – keine Ahnung, wie spät es ist.«
»Am Nachmittag findet die Besprechung des kommenden Ballettprogramms statt.«
»Ah, das hatte ich vergessen. Streich das bitte, ja?«
»Sehr wohl.« Marco zückt sein Notizbuch und trägt es ein.
»Ach, und bestelle ein Dutzend Kisten von dem Brandy, den Ethan mitgebracht hat. Ein wunderbarer Tropfen.«
Marco notiert es nickend.
»Du gehst doch nicht, oder?«, fragt Chandresh.
»Nein«, sagt Marco. »Es ist mir zu spät, um nach Hause zu gehen.«
»Nach Hause«, wiederholt Chandresh, als wäre es ein Fremdwort. »Hier bist du genauso zu Hause wie in der Wohnung, die du unbedingt behalten möchtest. Sogar noch mehr.«
»Ich werde mir Mühe geben, es nicht zu vergessen«, sagt Marco.
»Miss Bowen ist eine bildhübsche Frau, findest du nicht?«, bemerkt Chandresh plötzlich und sieht Marco an, um dessen Reaktion abzuschätzen.
Völlig überrumpelt stammelt Marco etwas, von dem er hofft, dass es nach neutraler Zustimmung klingt.
»Wir müssen sie immer zum Essen einladen, wenn der Zirkus in der Stadt
Weitere Kostenlose Bücher