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Der Nachtzirkus

Der Nachtzirkus

Titel: Der Nachtzirkus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erin Morgenstern
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schätzen weiß, dass du auch mein Zelt besuchst.«
    Bailey sieht sie mit zusammengekniffenen Augen an. Er versucht zu begreifen, was sie eben gesagt hat, und überlegt, woher um Himmels willen sie den wahren Grund für seine Anwesenheit im Zirkus kennt, wenn er doch niemandem davon erzählt hat und er es sich selbst kaum eingesteht.
    »Sie kennen das rothaarige Mädchen?« Er kann kaum glauben, dass die Wahrsagerin genau das meint. Aber sie nickt.
    »Ich kenne sie und ihren Bruder schon seit der Geburt«, sagt sie. »Sie ist ein ganz besonderes Mädchen, mit sehr schönem Haar.«
    »Ist … ist sie noch hier?«, fragt Bailey. »Ich bin ihr nur einmal begegnet, als der Zirkus das letzte Mal hier war.«
    »Sie ist noch hier.« Die Wahrsagerin verschiebt die Karten auf dem Tisch wieder ein bisschen, berührt eine und dann eine weitere, aber Bailey achtet nicht mehr auf die Bilder. »Du wirst sie wiedersehen, Bailey. Daran besteht kein Zweifel.«
    Bailey unterdrückt sein Verlangen, sie nach dem Zeitpunkt zu fragen, und wartet stattdessen, ob sie noch etwas über die Karten hinzuzufügen hat. Sie schiebt eine Karte hierhin und dahin, hebt dann den Ritter auf und legt ihn auf das verfallene Schloss.
    »Gefällt dir der Zirkus, Bailey?« Sie blickt wieder zu ihm hoch.
    »Ich habe noch nie etwas Vergleichbares gesehen«, antwortet er. »Allerdings bin ich noch nicht viel herumgekommen«, fügt er schnell hinzu. »Aber ich glaube, der Zirkus ist wundervoll. Ich mag ihn sehr.«
    »Das wäre hilfreich«, sagt die Wahrsagerin.
    »Hilfreich wobei?«, will Bailey wissen, aber sie antwortet nicht. Stattdessen dreht sie eine andere Karte um und legt sie über die Karte mit dem Ritter. Es ist ein Bild von einer Dame, die Wasser in einen See gießt. Über ihrem Kopf leuchtet ein heller Stern.
    Bailey hat immer noch Schwierigkeiten, ihre Miene unter dem Schleier zu erkennen, aber er ist sicher, dass sie die Karte mit der Frau leicht beunruhigt auf den Tisch legt. Als sie ihn wieder ansieht, ist ihr besorgter Blick jedoch verschwunden.
    »Du machst das schon«, sagt sie. »Du musst Entscheidungen treffen, und dir stehen Überraschungen bevor. Manchmal führt uns das Leben an unerwartete Orte. Die Zukunft ist nie in Stein gemeißelt, vergiss das nicht.«
    »Nein«, sagt Bailey. Er findet, dass die Wahrsagerin ein bisschen traurig aussieht, als sie die Karten vom Tisch aufsammelt und wieder ordentlich stapelt. Den Ritter legt sie ganz zum Schluss auf den Stapel.
    »Danke«, sagt Bailey. Obwohl er sich eine etwas klarere Aussage über seine Zukunft versprochen hatte, bedrückt ihn das Thema jetzt nicht mehr so sehr. Er überlegt, ob er gehen soll, weiß aber nicht so recht, was sich bei Wahrsagerinnen gehört.
    »Gern geschehen, Bailey«, sagt die Frau. »Es war mir ein Vergnügen, für dich zu legen.«
    Bailey greift in seine Tasche, holt die Tüte mit den Schokoladenmäusen heraus und bietet sie ihr an.
    »Möchten Sie eine Maus?« Bevor er sich insgeheim für ein so dummes Angebot schelten kann, lächelt die Wahrsagerin, auch wenn Bailey ganz kurz etwas fast Trauriges mitschwingen sieht.
    »Aber ja, gern«, sagt sie und zieht eine Schokoladenmaus an ihrem Lakritzschwanz aus der Tüte. Sie legt sie oben auf die Glaskugel. »Die mag ich mit am liebsten«, gesteht sie ihm. »Danke, Bailey. Genieße den Rest deiner Zeit im Zirkus.«
    »Mach ich.« Bailey steht auf und geht zurück zum Perlenvorhang. Er hebt die Hand, um die Schnüre zu trennen, hält aber plötzlich inne und dreht sich um.
    »Wie heißen Sie?«, fragt er die Wahrsagerin.
    »Ich glaube nicht, dass mich das ein Ratsuchender schon mal gefragt hat«, sagt sie. »Ich heiße Isobel.«
    »Hat mich gefreut, Isobel.«
    »Mich auch, Bailey. Und wenn du gehst, solltest du vielleicht den Weg rechts vom Zelt nehmen.«
    Bailey nickt, dreht sich wieder um und geht durch die Perlenschnüre in den immer noch leeren Vorraum. Diesmal pendeln die Perlen sich fast geräuschlos ein, und als sie reglos da hängen, ist alles weich und still, als gäbe es dahinter keinen anderen Raum mit einer am Tisch sitzenden Wahrsagerin.
    Bailey fühlt sich seltsam erleichtert. Als wäre er stärker geerdet, aber gleichzeitig auch größer. Die Sorgen um seine Zukunft drücken ihn nicht mehr so sehr, als er ins Freie tritt und rechts auf den gewundenen Pfad zwischen den gestreiften Zelten biegt.

Der Zauberer im Baum
    BARCELONA, NOVEMBER 1894
    D ie verborgenen Räume hinter dem Cirque des Rêves stehen im

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