Der Nachtzirkus
Das Pferd ist weiß, die Rüstung grau, im Hintergrund sind dunkle Wolken. Das Pferd ist mitten im Galopp, der Ritter im Sattel nach vorn gebeugt, mit gezücktem Schwert, wie wenn er unterwegs wäre zu einer großen Schlacht. Bailey betrachtet die Karte und überlegt, was sie wohl bedeuten könnte. Am unteren Rand steht in eleganter Schrift Cavalier d’Épées .
»Das soll ich sein?«, fragt Bailey. Die Frau lächelt und schiebt den Kartenbogen zu einem ordentlichen Stapel zusammen. »Ja, er steht für dich«, antwortet sie. »Es könnte ein Hinweis auf Bewegung oder Reise sein. Die Karten haben bei jedem eine andere Bedeutung.«
»Dann muss es schwer sein, aus ihnen zu lesen«, sagt Bailey.
Die Frau lacht wieder.
»Manchmal«, sagt sie. »Wollen wir es trotzdem versuchen?« Bailey nickt, und sie mischt erneut die Karten, bildet dann drei Stapel und legt sie oberhalb des Ritters vor ihn hin. »Zeig auf den Stapel, der dich am meisten interessiert«, sagt sie. Bailey mustert die Kartenstapel. Einer ist nicht so ordentlich, ein anderer höher als seine beiden Nachbarn. Sein Blick wandert immer wieder zu dem Haufen auf der rechten Seite.
»Der da«, sagt er, und obwohl es größtenteils geraten ist, kommt ihm die Entscheidung richtig vor. Die Wahrsagerin nickt und packt die drei Stapel aufeinander, Baileys liegt oben. Sie dreht die Karten nacheinander um und platziert sie in einem kunstvollen Muster auf den Tisch – einige überlappen sich, andere sind aneinandergereiht –, bis ungefähr zwölf Karten aufgedeckt sind. Schwarzweiße Bilder, ähnlich dem Ritter, manche schlichter, manche komplizierter. Viele zeigen Menschen in verschiedenen Situationen, auf einigen sind Tiere, auf anderen Kelche oder Münzen und noch mehr Schwerter. Ihre verzerrten Spiegelbilder sind in der danebenstehenden Glaskugel zu sehen.
Die Wahrsagerin betrachtet die Karten eine ganze Weile. Bailey überlegt, ob sie vielleicht wartet, dass sie ihr etwas sagen. Außerdem meint er, ein Lächeln bei ihr zu sehen, das sie vor ihm verbergen möchte.
»Interessant.« Sie zeigt auf eine Karte, eine Dame in fließenden Gewändern mit einer Waagschale, und noch eine, die Bailey nicht so gut sieht, aber an ein zerfallendes Schloss erinnert.
»Was ist interessant?«, fragt Bailey, noch immer von allem verwirrt. Er kennt keine Damen mit verbundenen Augen und ist noch nie in einem alten Schloss gewesen. Er weiß nicht mal genau, ob es in New England überhaupt Schlösser gibt.
»Vor dir liegt eine Reise«, erklärt die Wahrsagerin. »Da ist viel Bewegung. Und jede Menge Verantwortung.« Sie verschiebt eine Karte, dreht eine andere um und runzelt leicht die Stirn, obwohl Bailey noch immer ein unterdrücktes Lächeln zu sehen meint. Inzwischen haben seine Augen sich an das Kerzenlicht gewöhnt, und er kann ihre Miene unter dem Schleier besser erkennen. »Du bist Teil einer Kette von Ereignissen, auch wenn du im Augenblick deines Handelns nicht weißt, was sich daraus ergibt.«
»Ich mache etwas Wichtiges, muss aber erst irgendwohin gehen?«, fragt Bailey. Er hatte sich die Wahrsagerei etwas konkreter vorgestellt. Die Sache mit der Reise allerdings scheint die Seite seiner Großmutter zu begünstigen, auch wenn Cambridge nicht besonders weit entfernt ist.
Die Wahrsagerin reagiert nicht sofort. Stattdessen dreht sie eine andere Karte um. Diesmal verbirgt sie ihr Lächeln nicht.
»Du suchst nach Poppet«, sagt sie.
»Was ist ein Poppet?«, fragt er. Die Wahrsagerin antwortet nicht, sondern blickt von ihren Karten auf und mustert ihn komisch. Bailey spürt, wie sie ihn taxiert, und mehr noch, wie ihr Blick vom Schal über sein Gesicht bis zur Mütze schweift. Unruhig rutscht er auf seinem Stuhl herum.
»Heißt du Bailey?«, fragt sie. Bailey wird kreidebleich, und die Sorge und Nervosität von zuvor kehren augenblicklich zurück. Er muss schlucken, bevor er eine fast nur geflüsterte Antwort über die Lippen bringt.
»Ja?«, sagt er. Es klingt wie eine Frage, als wäre er nicht ganz sicher, ob er wirklich so heißt. Die Wahrsagerin lächelt ihm zu, ein freundliches Lächeln, das ihm zeigt, dass sie nicht annähernd so alt ist, wie er angenommen hatte. Vielleicht nur ein paar Jahre älter als er.
»Interessant«, sagt sie wieder. Er wünscht, sie würde ein anderes Wort benutzen. »Wir haben eine gemeinsame Bekannte, Bailey.« Sie blickt wieder auf die Karten. »Ich glaube, du bist heute Abend hier, weil du sie suchst. Obwohl ich es natürlich zu
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