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Der Nachtzirkus

Der Nachtzirkus

Titel: Der Nachtzirkus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erin Morgenstern
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zuvor.
    »Danke«, sagt Poppet. »Die war schön. Irgendwie traurig, aber dann auch wieder nicht.«
    »Bitte«, sagt Widget. Er trinkt einen Schluck Apfelmost, der nicht mehr heiß, sondern nur noch warm ist. Er hält den Becher in den Händen, hebt ihn auf Augenhöhe und starrt ihn an, bis ein zarter Dampfkringel von der Oberfläche aufsteigt.
    »Mach das mit meinem bitte auch«, sagt Poppet und reicht ihm ihren Becher. »Ich krieg das nie richtig hin.«
    »Und ich kann nichts richtig schweben lassen, dann sind wir ja quitt«, sagt Widget, nimmt ihren Becher und konzentriert sich, bis auch ihr Apfelmost wieder dampft.
    Als Widget ihr den Becher zurückgeben will, schwebt er aus seiner Hand in ihre. Die Oberfläche des Apfelmosts bebt bei der Bewegung, bleibt aber sonst so glatt, als würde der Becher über einen Tisch gleiten.
    »Angeberin«, sagt Widget.
    Sie sitzen da, nippen an ihrem nunmehr wieder heißen Apfelmost und blicken in die knorrigen schwarzen Äste, die bis an die Zeltdecke reichen.
    »Widge?«, fragt Poppet nach langem Schweigen.
    »Ja?«
    »Dann ist es gar nicht so schlimm, irgendwo eingesperrt zu sein. Es hängt davon ab, wo man eingesperrt ist.«
    »Ich nehme an, es hängt davon ab, wie gern du den Ort magst, an dem du eingesperrt bist«, sagt Widget.
    »Und wie gern du die Person magst, mit der du dort festsitzt«, fügt Poppet hinzu und tritt mit ihrem weißen Stiefel nach seinem schwarzen.
    Widgets Lachen hallt weithin hörbar durch das Zelt und über die mit Kerzen gespickten Äste. Jede Flamme flackernd und weiß.

Durchgangsstationen
    LONDON, APRIL 1895
    T ara Burgess merkt erst bei ihrer Rückkehr nach London, dass die Adresse auf der Visitenkarte von Mr Barris kein privates Wohnhaus ist, sondern das Midland Grand Hotel.
    Eine Zeitlang lässt sie die Karte auf einem Tisch im Salon liegen und schaut hin, wann immer sie zufällig dort ist. Dann vergisst sie die Karte wieder eine ganze Weile, bis sie sich irgendwann wieder an sie erinnert.
    Lainie versucht, Tara zu einem längeren Urlaub mit ihr in Italien zu überreden, doch sie lehnt ab. Tara erzählt ihrer Schwester wenig von ihrem Besuch in Wien, nur so viel, dass Ethan nach ihr gefragt hat.
    Lainie meint, sie sollten vielleicht über einen Umzug nachdenken und dieses Thema nach ihrer Rückkehr aus Italien vertiefen.
    Tara nickt nur und umarmt ihre Schwester herzlich, bevor sie geht.
    Allein im Haus, wandert Tara gedankenverloren umher. Sie lässt halbgelesene Romane auf Stühlen und Tischen liegen.
    Die Einladungen von Mme. Padva zum Tee oder ins Ballett lehnt Tara höflich ab.
    Sie dreht alle Spiegel im Haus mit dem Gesicht zur Wand. Die sie nicht umdrehen kann, verhängt sie mit Laken, so dass sie Geistern in leeren Räumen gleichen.
    Außerdem schläft sie schlecht.
    Eines Nachmittags – die Karte hat inzwischen monatelang geduldig Staub angesetzt – nimmt Tara sie und steckt sie in ihre Tasche. Und noch ehe sie entscheiden kann, ob ihr Plan eine gute Idee ist oder nicht, ist sie zur Tür hinaus und unterwegs zum Zug.
    Tara hat das vor dem Bahnhof St. Pancras stehende Hotel mit der Uhr im Giebel noch nie besucht, aber sie empfindet es sofort als eine Durchgangsstation. Das große, gediegene Gebäude hat etwas Unbeständiges mit seinem steten Strom von Gästen und Reisenden, die zu anderen Orten aufbrechen oder von dort kommen und nur kurz haltmachen.
    Sie erkundigt sich am Empfang, aber dort heißt es, eine Person mit diesem Namen sei nicht als Gast eingetragen. Sie wiederholt den Namen noch mehrere Male, nachdem der Empfangschef sie immer wieder missversteht. Sie probiert es mit einigen Variationen, da die Buchstaben auf Mr Barris’ Karte verschmiert sind und sie sich nicht an die richtige Aussprache erinnert. Je länger sie dort steht, umso unsicherer wird sie, ob sie den schwer leserlichen Namen auf der Karte überhaupt jemals ausgesprochen gehört hat.
    Der Empfangschef fragt höflich, ob sie eine Nachricht hinterlassen möchte, falls der fragliche Herr vielleicht später am Tag ankomme, doch Tara lehnt ab, dankt ihm für seine Bemühungen und steckt die Karte wieder in die Tasche.
    Auf dem Weg durch die Eingangshalle überlegt sie, ob die Adresse möglicherweise nicht stimmt, aber das wäre untypisch für Mr Barris, der eigentlich immer korrekte Informationen liefert.
    »Guten Tag, Miss Burgess«, sagt plötzlich eine Stimme. Unverhofft steht der Mann, dessen Namen sie nicht richtig aussprechen kann, in seinem

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