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Der Nachtzirkus

Der Nachtzirkus

Titel: Der Nachtzirkus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erin Morgenstern
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Erzählt man ein Geheimnis auch nur einem Menschen weiter, ein echtes Geheimnis, das wichtig ist, dann verändert es sich. Es aufzuschreiben ist noch schlimmer, denn man kann nie wissen, wie viele Augen es lesen, egal wie vorsichtig man damit umgeht. Man sollte seine Geheimnisse also hüten, wenn man welche hat – zu ihrem eigenen Besten und auch zu deinem.
    Das ist mit einer der Gründe, warum es heutzutage weniger Magie auf der Welt gibt. Magie ist geheim, und Geheimnisse sind magisch. Sie Jahr um Jahr zu lehren und mit anderen zu teilen, und schlimmer noch, sie in schönen Büchern niederzuschreiben, das alles hat die Magie schwinden lassen und ihr Stück für Stück die Macht genommen. Vielleicht musste das so kommen, aber vielleicht hätte man es auch vermeiden können. Jeder macht Fehler.
    Der größte Zauberer in der Geschichte machte den Fehler, seine Geheimnisse nicht für sich zu behalten. Und da sie magisch und wichtig waren, war es ein recht schwerwiegender Fehler.
    Er erzählte sie einem Mädchen. Sie war jung und klug und schön –«
    Poppet prustet in ihren Becher. Widget verstummt.
    »Tut mir leid«, sagt Poppet. »Erzähl bitte weiter, Widge.«
    »Sie war jung und klug und schön«, fährt Widget fort. »Wenn das Mädchen nämlich nicht schön und klug gewesen wäre, hätte er ihr leichter widerstehen können, aber dann gäbe es auch keine Geschichte.
    Der Zauberer war alt und natürlich ziemlich klug, darum hatte er seine Geheimnisse lange Zeit keiner Menschenseele anvertraut. Vielleicht hatte er im Laufe der Jahre vergessen, wie wichtig es war, Geheimnisse zu hüten, es könnte allerdings auch sein, dass er sich von der Jugend, der Schönheit oder der Klugheit des Mädchens hatte blenden lassen. Vielleicht war er auch nur müde oder hatte zu viel Wein getrunken und merkte nicht, was er tat. Jedenfalls erzählte er dem Mädchen seine dunkelsten Geheimnisse, die verborgenen Schlüssel zu seiner Magie.
    Kaum waren die Geheimnisse vom Zauberer auf das Mädchen übergegangen, verloren sie einen Teil ihrer Macht, so wie Katzen Haare verlieren, wenn man sie kräftig krault. Aber sie waren noch stark und wirksam und magisch, und das Mädchen benutzte sie gegen den Zauberer. Sie hatte ihn hereingelegt, ihm seine Geheimnisse genommen und sich zu eigen gemacht. Sie gab sich außerdem nicht besonders viel Mühe, sie zu hüten, und schrieb sie wahrscheinlich auch noch irgendwo auf.
    Den Zauberer sperrte sie in eine riesige alte Eiche. Einen Baum wie diesen hier. Die Magie, die sie dazu benutzte, war stark, denn es war ja seine eigene, alt und machtvoll. Er konnte sie nicht rückgängig machen.
    Sie ließ ihn in der Eiche zurück, und er war verloren, weil ja niemand wusste, dass er in dem Baum steckte. Aber er war nicht tot. Wenn es ihr möglich gewesen wäre, hätte das Mädchen ihn vielleicht umgebracht, nachdem sie ihm seine Geheimnisse abgenötigt hatte, aber mit seiner eigenen Magie konnte sie ihn nicht töten. Vielleicht wollte sie das auch gar nicht. Sie war eher an Macht interessiert als an ihm, aber womöglich mochte sie ihn doch ein wenig, gerade genug, um ihm sein Leben zu lassen. Sie begnügte sich damit, ihn einzusperren; in ihren Augen erfüllte das den gleichen Zweck.
    Allerdings war sie nicht ganz so erfolgreich, wie sie es gern gehabt hätte. Sie hütete nämlich ihr neues magisches Geheimnis nicht, sondern protzte damit herum und achtete auch sonst nicht besonders gut darauf. Irgendwann schwand die Macht ihres Geheimnisses und mit ihr auch sie.
    Der Zauberer wiederum wurde Teil des Baums. Und der Baum gedieh und wuchs, die Äste streckten sich zum Himmel, und die Wurzeln griffen tief in die Erde. Der Zauberer war in den Blättern und der Rinde und dem Saft, und er war in den Eicheln, die von Eichhörnchen weggetragen wurden. So entstanden an anderen Stellen neue Eichen. Und als diese Bäume wuchsen, war er auch in ihren Ästen und Blättern und Wurzeln.
    Und so erlangte der Zauberer durch den Verlust seiner Geheimnisse Unsterblichkeit. Sein Baum stand noch lange nachdem das kluge junge Mädchen alt und nicht mehr schön war, und in gewisser Weise wurde er größer und stärker, als er es je zuvor gewesen war. Wenn man ihm allerdings die Chance gegeben hätte, noch einmal von vorne anzufangen, dann hätte er seine Geheimnisse vermutlich besser gehütet.«
    Als Widget mit seiner Geschichte fertig ist, legt sich Schweigen über das Zelt, aber der Baum fühlt sich lebendiger an als

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