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Der Nachtzirkus

Der Nachtzirkus

Titel: Der Nachtzirkus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erin Morgenstern
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starken Kontrast zum Schwarzweiß der Zirkuszelte. Sie vibrieren vor Farbe. Verströmen ein warmes bernsteinfarbenes Licht.
    Der von den Murray-Zwillingen bewohnte Raum ist besonders schillernd. Ein buntes Kaleidoskop in Karmesin, Koralle und Kanariengelb – manchmal sieht es aus, als stünde der gesamte Raum in Flammen; und dazwischen toben hier und da flauschige Kätzchen mit kohlschwarzem, funkelndem Fell.
    Gelegentlich kommt der Vorschlag, man solle die Zwillinge auf ein Internat schicken, um ihnen eine ordentliche Erziehung mitzugeben, aber ihre Eltern vertreten die Ansicht, dass sie im Zusammenleben mit einer so unterschiedlichen Truppe und beim Reisen um die Welt mehr lernen als in engen Klassenzimmern und aus Schulbüchern.
    Die Zwillinge sind mit dieser Regelung sehr zufrieden. Sie erhalten unregelmäßig Unterricht in zahllosen Fächern und lesen jedes Buch, das ihnen in die Finger kommt; nach der Lektüre landen die Bücher haufenweise in der schmiedeeisernen Wiege, von der sie sich nicht trennen wollten, als sie ihr entwachsen waren.
    Sie kennen den Zirkus in- und auswendig, wechseln mühelos von Farbe zu Schwarzweiß und fühlen sich in beiden Bereichen gleichermaßen wohl.
    Heute Abend sitzen sie in einem gestreiften Zelt unter einem ziemlich großen Baum mit schwarzen, unbelaubten Ästen und trinken Apfelmost aus dampfenden Bechern.
    Zu dieser späten Stunde sind in besagtem Zelt keine Besucher mehr anwesend, und es ist ziemlich unwahrscheinlich, dass in den verbleibenden Stunden bis zum Morgengrauen noch jemand kommt.
    Ihre Vorstellungen haben die Zwillinge hinter sich, sie können die Zeit bis Tagesanbruch nach Lust und Laune verbringen.
    »Möchtest du heute Abend lesen?«, fragt Widget seine Schwester. »Wir könnten doch einen Spaziergang machen, es ist nicht sehr kalt.« Er holt eine Taschenuhr aus seinem Mantel und überprüft die Zeit. »Und auch noch nicht so spät«, fügt er hinzu, wobei viele andere ihre Auffassung von spät nicht unbedingt teilen würden.
    Poppet beißt sich nachdenklich auf die Lippe, ehe sie antwortet.
    »Nein«, sagt sie. »Letztes Mal war alles ganz rot und verwirrend. Ich glaube, ich sollte ein bisschen warten, bevor ich es wieder versuche.«
    »Rot und verwirrend?«
    Poppet nickt.
    »Es war ein großes Durcheinander«, erklärt sie. »Feuer und etwas Rotes, aber nicht gleichzeitig. Ein Mann ohne einen Schatten. Ein Gefühl, als würde sich alles aufrollen und dann verheddern, wie bei den Kätzchen, wenn sie mit Wolle spielen und man Anfang und Ende nicht mehr findet.«
    »Hast du Celia davon erzählt?«, fragt Widget.
    »Noch nicht«, erwidert Poppet. »Ich erzähle ihr nicht gern Dinge, die keinen Sinn ergeben. Manche Dinge ergeben erst irgendwann später einen Sinn.«
    »Das stimmt«, sagt Widget.
    »Ach, und noch etwas«, sagt Poppet. »Wir bekommen Gesellschaft. Das war auch irgendwo mit dabei. Ich weiß nicht, ob vor oder nach den anderen Ereignissen oder irgendwann dazwischen.«
    »Kannst du sehen, wer es ist?«, fragt Widget.
    »Nein«, antwortet Poppet schlicht.
    Widget ist nicht überrascht.
    »Was war das rote Etwas? Könntest du es beschreiben?«
    Poppet schließt die Augen und erinnert sich.
    »Es sieht aus wie Farbe.«
    Widget dreht sich zu ihr.
    »Farbe?«
    »Wie auf dem Boden verschüttete Farbe.« Poppet schließt erneut die Augen, öffnet sie dann aber schnell. »Dunkelrot. Alles ist irgendwie durcheinander, und das mit dem Rot gefällt mir gar nicht. Als ich es sah, bekam ich Kopfschmerzen. Das mit der Gesellschaft ist netter.«
    »Gesellschaft wäre schön«, sagt Widget. »Weißt du, wann?«
    Poppet schüttelt den Kopf.
    »Manches könnte schon bald sein. Der Rest ist irgendwie weit entfernt.«
    Sie sitzen angelehnt am Baumstamm und trinken ihren Apfelmost in kleinen Schlucken.
    »Erzähl mir bitte eine Geschichte«, sagt Poppet nach einer Weile.
    »Was für eine Geschichte?« Widget fragt sie das immer und gibt ihr damit die Möglichkeit, sich etwas zu wünschen, auch wenn ihm schon eine Geschichte vorschwebt. Nur bevorzugte oder besondere Zuhörer dürfen sich bei ihm etwas wünschen.
    »Eine Geschichte über einen Baum«, sagt Poppet und sieht zu den knorrigen Ästen hoch.
    Widget lässt sich Zeit, bis er beginnt. Das Zelt und der Baum werden zu einem stummen Prolog, während Poppet geduldig wartet.
    »Geheimnisse haben Macht«, setzt Widget an. »Und diese Macht nimmt ab, wenn man sie mit anderen teilt, deshalb sollte man sie gut hüten.

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