Der Nachtzirkus
Schirm.
»Ich bitte aufrichtig um Entschuldigung«, sagt sie, während in ihren Augen noch immer der Schalk blitzt.
»Ich würde mich sehr gern mit Ihnen unterhalten, wenn Sie mich auf einen Drink begleiten würden«, sagt Marco. Sein Bowlerhut ist schon wieder trocken, als er vergeblich versucht, sie beide mit dem offenen Schirm zu schützen. Der Wind peitscht Celia die dunklen Locken in nassen Strähnen ins Gesicht. Sie beobachtet, wie die Regentropfen auf seinen Wimpern verdunsten.
Nach all den Jahren voller Ungewissheit verläuft die Begegnung mit ihrem Gegner ganz anders als erwartet. Sie hatte mit jemandem gerechnet, den sie kennt. Jemandem aus dem inneren Kreis des Zirkus, und nicht jemandem von außerhalb, der aber doch irgendwie dazugehört.
Trotz der ständigen Mahnungen ihres Vaters, sich nicht mit ihrem Gegner zu befassen, gibt es viele Fragen, die sie ihm nur zu gern stellen würde. Aber gleichzeitig fühlt sie sich plötzlich bloßgestellt, nachdem ihr klar ist, dass er immer wusste, wo sie beide standen. Er wusste es, wenn er eine Tür für sie öffnete oder Notizen für Chandresh machte. Wusste es, wenn er sie wie jetzt mit diesen befremdlichen leuchtend grünen Augen musterte.
Trotzdem ist die Einladung verführerisch. Wenn sie nicht so durchweicht wäre, würde sie vielleicht annehmen.
»Das glaube ich Ihnen gern«, sagt Celia und erwidert Marcos Grinsen. »Vielleicht ein andermal.«
Mit einiger Mühe spannt sie ihren Schirm auf, und als sie das Dach aus schwarzer Seide über ihren Kopf schwingt, verschwindet sie mitsamt dem Schirm. Zurück bleiben nur Wassertropfen, die auf den leeren Platz fallen.
Marco steht allein im Regen und betrachtet die Stelle, an der Celia soeben noch stand. Dann entfernt auch er sich in die Nacht.
SPIEGELBILDER UND VERZERRUNGEN
Auf dem Schild steht Spiegelgang , aber du stellst fest, dass es mehr ist als nur ein schlichter Gang.
Neben bodenlangen Spiegelglasscheiben siehst du Aberhunderte Spiegel in unterschiedlichen Formen und Größen, jeder in einem anderen Rahmen.
In einem siehst du deine Stiefel, in dem daneben nur leeren Raum und die Spiegel auf der anderen Seite. Dein Schal ist in einem Spiegel verschwunden, im nächsten ist er dann wieder da.
Hinter dir spiegelt sich ein Mann mit Bowlerhut, doch erscheint er nur in manchen Spiegeln und in anderen nicht. Wenn du dich umdrehst, siehst du ihn nicht, aber plötzlich gehen mehr Besucher neben dir her, als du im Glas gesehen hast.
Der Gang führt zu einem runden Raum mit hellem Licht. Es strahlt von einem hohen Laternenpfahl in der Mitte, einer hoch aufragenden schwarzen Eisenstange mit einer Milchglaslampe, die eher an eine Straßenecke in der Stadt gehört als in ein Zirkuszelt.
Die Wände sind vollkommen verspiegelt. Jeder lange Spiegel reicht bis an die gestreifte Decke und den gleichermaßen gestrichenen Boden.
Wenn du weiter in den Raum trittst, stehst du in einer endlosen Flucht aus Straßenlaternen und Streifenmustern, die sich wieder und wieder brechen.
Kartomantie
CONCORD, MASSACHUSETTS, OKTOBER 1902
D er Weg durch den Zirkus führt Bailey wieder auf den Platz in der Mitte. Er bleibt kurz stehen und betrachtet das glimmende Feuer, dann geht er zu einem Händler und kauft sich eine Tüte Pralinen als Ersatz für sein ausgefallenes Abendessen. Die Pralinen sind wie Mäuse geformt, mit Mandelohren und Lakritzschwänzen. Er isst zwei hintereinander und steckt den Rest in seine Manteltasche, in der Hoffnung, dass sie nicht schmelzen.
Dann entfernt er sich wieder vom Feuer und verlässt den Platz in einer anderen Richtung.
Er kommt an mehreren Zelten mit interessanten Schildern vorbei, fühlt sich aber im Augenblick von keinem angezogen, weil er immer noch an die Vorstellung der Zauberkünstlerin denkt. Als der Weg abbiegt, stößt er auf ein kleineres Zelt mit einem hübschen aufwendigen Schild:
Wahrsagerin
Dieses Wort kann er mühelos lesen, der Rest jedoch ist ein kompliziertes Gewimmel aus kunstvollen Buchstaben. Bailey muss ganz nah herantreten, um es entziffern zu können:
Schicksalsdeutung und Enthüllung
Ihrer geheimsten Wünsche
Bailey sieht sich um. Nirgendwo ist jemand zu sehen, und er fühlt sich wie damals, als er sich am helllichten Tag heimlich durch den Zaun stahl, als gäbe es hier nur ihn und die Dinge und Menschen, die zum Zirkus gehören.
Der ständige Streit um seine Zukunft hallt ihm in den Ohren, als er in das Zelt tritt.
Bailey befindet sich in einem Raum, der ihn
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