Der Nachtzirkus
an den Salon seiner Großmutter erinnert, nur riecht es nicht so stark nach Lavendel. Ein paar leere Stühle stehen da, und ein funkelnder Kronleuchter zieht kurz seine Aufmerksamkeit auf sich. Dann entdeckt er den Vorhang.
Er besteht aus glänzenden Perlenschnüren. Bailey hat so etwas noch nie gesehen. Der Vorhang schimmert im Licht, und er weiß nicht so recht, ob er hindurchgehen oder auf irgendein Zeichen oder eine Aufforderung warten soll. Er sucht nach einem Schild, auf dem sich vielleicht ein Hinweis findet, entdeckt aber nichts. Verwirrt steht er im Vorraum, und dann ruft jemand hinter dem Perlenvorhang.
»Bitte komm doch herein«, sagt die Stimme. Eine leise Frauenstimme, die sich anhört, als stünde sie direkt neben ihm, obwohl Bailey ganz sicher ist, dass die Stimme aus dem Nebenraum kam. Zögernd greift er nach den glatten, kalten Perlen und stellt fest, dass seine Hand mühelos hindurchgleitet und sie sich teilen wie Wasser. Die Perlen rasseln, als die Schnüre aneinanderstoßen; das im dunklen Raum widerhallende Geräusch erinnert ihn an Regen.
Dieser zweite Raum gleicht dem Salon seiner Großmutter nicht mehr so sehr. Er ist voll mit Kerzen, und in der Mitte steht ein Tisch mit einem leeren Stuhl auf der einen Seite und einer schwarz gekleideten Frau mit einem langen dünnen Schleier vor dem Gesicht auf der anderen. Auf dem Tisch befinden sich ein Kartenspiel und eine große Glaskugel.
»Setz dich bitte, junger Mann«, sagt die Frau, und Bailey geht zu dem leeren Stuhl und setzt sich. Der Stuhl ist erstaunlich bequem, ganz anders als die steifen Stühle bei seiner Großmutter, obwohl sie bemerkenswert ähnlich aussehen. Erst jetzt fällt Bailey auf, dass mit Ausnahme des rothaarigen Mädchens bisher noch niemand im Zirkus gesprochen hat. Die Zauberkünstlerin hatte kein Wort von sich gegeben, was er während ihrer Vorführung allerdings nicht bemerkt hatte.
»Leider musst du erst zahlen, bevor wir anfangen«, sagt die Frau. Bailey ist froh, dass er noch ein bisschen Taschengeld für die unvorhergesehe Ausgabe hat.
»Und wie viel?«, fragt er.
»So viel du für einen kurzen Blick auf deine Zukunft zahlen möchtest«, antwortet die Wahrsagerin. Bailey denkt kurz nach. Er findet es merkwürdig, aber fair. Dann holt er einen – so hofft er – passenden Betrag aus der Tasche und legt ihn auf den Tisch. Die Frau nimmt das Geld nicht weg, sondern hält die Hand darüber, und es verschwindet.
»Was möchtest du denn gern wissen?«, fragt sie.
»Etwas über meine Zukunft«, erwidert Bailey. »Meine Großmutter will, dass ich nach Harvard gehe, aber mein Vater will, dass ich die Farm übernehme.«
»Und was willst du?«, fragt die Wahrsagerin.
»Ich weiß es nicht«, antwortet Bailey.
Sie lacht freundlich, und das beruhigt Bailey, denn es gibt ihm das Gefühl, dass er mit einem normalen Menschen spricht und nicht mit irgendeinem rätselhaften Wesen.
»Das macht nichts«, erklärt sie. »Wir werden sehen, was die Karten dazu sagen.«
Sie nimmt den Packen und fängt an zu mischen, die Karten fügen sich wellenförmig ineinander. Dann breitet sie sie in einer fließenden Bewegung auf dem Tisch aus, so dass sie einen Bogen aus schwarzweiß gemusterten Kartenrücken bilden. »Wähl eine aus«, sagt sie. »Lass dir Zeit. Das wird die Karte, die für dich steht.«
Bailey betrachtet nachdenklich den Kartenbogen. Sie sehen alle gleich aus. Kleine Musterschnipsel, manche breiter als andere, manche nicht ganz so gleichmäßig aufgereiht wie der Rest. Er sieht von einem Ende zum anderen, dann sticht ihm eine ins Auge. Sie ist versteckter als der Rest und wird von der darüberliegenden Karte fast ganz verdeckt. Nur der Rand ist sichtbar. Er greift nach ihr, zögert aber kurz, bevor er sie nimmt.
»Darf ich sie anfassen?«, fragt er. Er fühlt sich genauso wie damals, als er zum ersten Mal den Tisch mit dem besten Geschirr decken durfte, als dürfe man ihn solche Sachen eigentlich nicht anfassen lassen, vermischt mit der heftigen Angst, etwas könnte zerbrechen.
Doch die Wahrsagerin nickt, und Bailey zieht sie heraus und legt sie ein Stück von den anderen entfernt auf den Tisch.
»Du darfst sie ansehen«, sagt sie, und Bailey dreht die Karte um.
Auf der Vorderseite sind nicht wie bei den ihm bekannten schwarzroten Spielkarten Symbole wie Herz, Kreuz, Pik und Karo. Stattdessen ist da ein Bild in Schwarz, Weiß und Grautönen.
Die Illustration zeigt einen Ritter auf einem Pferd, wie aus einem Märchen.
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