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Der Nachtzirkus

Der Nachtzirkus

Titel: Der Nachtzirkus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erin Morgenstern
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sehen, wie sie ist, wenn man mittendrin steckt«, sagt Tsukiko. »Dann ist alles zu vertraut. Zu angenehm.«
    Sie legt eine Pause ein. Die Rauchkringel ihrer Zigarette winden sich um ihren Kopf und steigen durch die Regentropfen nach oben.
    »Vielleicht hatte die verstorbene Miss Burgess genug Abstand, um die Sache anders zu sehen«, sagt sie.
    Isobel runzelt die Stirn und dreht sich zu Taras Grab um. Lainie und Mr Barris entfernen sich gemächlich, sein Arm liegt um ihre Schultern.
    »Warst du schon mal verliebt, Kiko?«
    Tsukiko strafft die Schultern und atmet langsam aus. Isobel rechnet schon nicht mehr mit einer Antwort auf ihre Frage, aber dann erfolgt sie doch.
    »Ich hatte viele Affären. Manche dauerten Jahrzehnte, andere nur Stunden. Ich habe Prinzessinnen und Bauern geliebt. Und ich nehme an, sie alle haben mich auch geliebt, auf ihre Weise.«
    Das ist typisch Tsukiko, keine echte Antwort auf die Frage. Aber Isobel bohrt nicht weiter.
    »Alles wird sich auflösen«, sagt Tsukiko nach einer ganzen Weile. Isobel muss nicht fragen, was sie meint. »Die Risse zeigen sich langsam. Früher oder später wird alles zerbrechen.« Sie verstummt und nimmt einen letzten Zug von ihrer Zigarette. »Versuchst du immer noch, dagegen anzugehen?«
    »Ja«, antwortet Isobel. »Aber ich glaube nicht, dass es etwas nützt.«
    »Die Folgen sind für dich nicht leicht zu erkennen. Schließlich steckst du mittendrin. Der kleinste Zauber kann die größte Wirkung haben.«
    »Offenbar ist er aber nicht sehr wirkungsvoll.«
    »Was du tust, ordnet vielleicht eher das Chaos in dir als das Chaos um dich herum.«
    Isobel erwidert nichts. Tsukiko zuckt die Schultern und sagt nichts mehr.
    Wenig später drehen sie sich um und gehen schweigend davon.
    Der schneeweiße Engel bleibt mit einer schwarzen Rose in der Hand allein an Taras frischem Grab zurück. Er bewegt sich nicht, zuckt mit keiner Wimper. Sein gepudertes Gesicht ist vor Kummer erstarrt.
    Der heftige Regen zupft vereinzelte Federn aus seinen Flügeln und klatscht sie in die matschige Erde.

LABYRINTH

    Du gehst durch einen mit Spielkarten tapezierten Gang, siehst Reihe um Reihe nur Pik und Kreuz. Über dir hängen Laternen, die ebenfalls aus Karten bestehen und im Vorbeigehen sanft schaukeln.
    Eine Tür am Ende des Gangs führt zu einer eisernen Wendeltreppe.
    Die Stufen führen nach oben und nach unten. Du gehst nach oben und stößt auf eine Falltür in der Decke.
    Sie öffnet sich zu einem Raum voll mit Federn, die abwärtsflattern. Wenn du hindurchgehst, fallen sie wie Schnee auf die Tür im Boden und verdecken sie.
    Es gibt sechs identische Türen. Du wählst eine beliebige aus, ein paar Federn flattern hinter dir her.
    Beim Betreten des nächsten Raums schlägt dir überwältigender Kiefernduft entgegen, du befindest dich in einem Wald mit immergrünen Bäumen. Nur sind die Bäume nicht grün, sondern hell und weiß. Sie leuchten im Dunkel, das sie umgibt.
    Sich zwischen ihnen zu bewegen, ist nicht einfach. Bei jedem Schritt verlieren sich die Wände in Schatten.
    Auf der Suche nach der nächsten Tür hörst du ein Geräusch, das an das Lachen einer Frau erinnert, aber vielleicht ist es auch nur das Rauschen der Bäume.
    Du spürst warmen Atem in deinem Nacken und drehst dich um, aber es ist niemand da.

Ailuromantie
    CONCORD, MASSACHUSETTS, OKTOBER 1902
    A ls Bailey aus dem Zelt der Kartenlegerin kommt und wie von ihr empfohlen nach rechts geht, stößt er auf eine kleine Menschenmenge, die einer Vorführung zuschaut. Anfangs weiß er nicht, worum es sich handelt, denn es gibt kein erhöhtes Podest. Durch eine Lücke zwischen den Zuschauern erspäht er einen in die Luft gehaltenen Reifen, der größer ist als der, den die Schlangenfrau benutzt hatte. Er tritt näher heran und sieht, wie ein schwarzes Kätzchen durch den Reifen springt und irgendwo außer Sichtweite landet.
    Eine Frau mit großem Hut dreht sich vor ihm um, und er sieht einen jungen Mann in etwa seinem Alter, nur etwas kleiner. Er trägt einen schwarzen, aus allen möglichen Stoffen genähten Anzug und einen dazu passenden schwarzen Hut. Auf seiner Schulter sitzen zwei weiße Kätzchen. Als er seine schwarz behandschuhte Hand hochhält, springt eines der Kätzchen hinein, schnellt von seinem Handteller durch den Reifen und vollführt auf dem höchsten Punkt des Sprungs einen imponierenden Salto. In der kleinen Zuschauermenge lachen einige, und mehrere, darunter auch Bailey, applaudieren. Die Frau mit dem

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