Der Nachtzirkus
Als Poppet nickt, tippt er grüßend an die Mütze und verschwindet in der Menge.
Bailey und Poppet schlendern um den großen Platz herum. Eine Weile herrscht einvernehmliches Schweigen zwischen ihnen, dann nimmt Bailey seinen ganzen Mut zusammen und stellt eine Frage, von der er nicht weiß, ob er sie im Beisein von Widget ohne weiteres stellen würde.
»Darf ich dich etwas fragen?«
»Natürlich«, sagt Poppet. Vor dem Kakaostand wartet eine lange Schlange, aber der Verkäufer sieht Poppet, die schnell drei Finger hochhält, und nickt ihr lächelnd zu.
»Als … ähm, als der Zirkus das letzte Mal da war und ich, na ja …«, Bailey sucht nach Worten und ärgert sich, dass ihm die Frage im Kopf leichter fällt.
»Ja?«, sagt Poppet.
»Woher wusstest du meinen Namen?«, fragt Bailey. »Und woher wusstest du, dass ich auf dem Zirkusgelände war?«
»Hmmmm …«, entgegnet Poppet, als fände sie es schwierig, die richtigen Worte zu finden. »Das ist nicht leicht zu erklären. Ich sehe Dinge, bevor sie passieren. Ich habe dich kommen sehen, kurz bevor du hier warst. Und obwohl ich Einzelheiten nicht immer gut erkenne, wusste ich bei dir sofort, wie du heißt, so wie ich weiß, dass dein Schal blau ist.«
Als sie an der Reihe sind, hält der Verkäufer schon drei Kakao in gestreiften Bechern für sie bereit, jeder mit einem extra Sahnehäubchen obendrauf. Poppet gibt Bailey einen und nimmt die anderen beiden, dann winkt der Verkäufer sie weiter, ohne dass ein Geldbetrag den Besitzer wechselt. Bailey nimmt an, dass Angehörige des Zirkus in den Genuss von kostenlosem Kakao kommen.
»Du siehst also alles, bevor es passiert?«, fragt Bailey. Er ist sich nicht sicher, wie er Poppets Antwort aufnehmen soll.
Poppet schüttelt den Kopf.
»Nein, nicht alles. Manchmal sehe ich nur Bruchstücke wie Wörter oder Bilder in einem Buch, aber dem Buch fehlen viele Seiten und es ist in einen Teich gefallen, so dass einige Stellen verwischt sind, andere dagegen nicht. Ergibt das einen Sinn?«
»Nicht so richtig«, antwortet Bailey.
Poppet lacht. »Ich weiß, das klingt seltsam.«
»Nein, ganz und gar nicht«, erwidert Bailey. Poppet sieht ihn skeptisch an. »Na ja, klar, es ist schon seltsam. Aber ungewöhnlich seltsam, nicht schlimm seltsam.«
»Danke, Bailey«, sagt Poppet. Sie gehen um den Platz herum zurück zum Feuer, wo Widget schon mit einer braunen Papiertüte wartet und die leuchtend weißen Flammen betrachtet.
»Wo wart ihr so lange?«, fragt Widget.
»Wir mussten anstehen«, sagt Poppet und reicht ihm seinen Kakao. »Du nicht?«
»Nein. Wahrscheinlich wissen die Leute noch nicht, wie gut die Dinger schmecken«, sagt Widget und schüttelt die Tüte. »Dann sind wir jetzt so weit?«
»Ich glaube schon«, sagt Poppet.
»Wohin gehen wir?«, will Bailey wissen.
Poppet und Widget wechseln einen Blick.
»Wir drehen unsere Runden«, sagt Poppet. »In Zirkelkreisen um den Zirkus. Um … um alles im Auge zu haben. Du möchtest doch mitkommen, oder?«
»Natürlich.« Bailey ist froh, dass sie ihn nicht als Zumutung empfinden.
Auf verschlungenen Pfaden wandern sie um den Zirkus, trinken ihren Kakao in kleinen Schlucken und mampfen Schokoladenmäuse und die süßen Zimtteigdinger, die tatsächlich so gut schmecken wie versprochen. Poppet und Widget erzählen ihm Zirkusgeschichten und weisen im Vorbeigehen auf bestimmte Zelte hin, Bailey beantwortet ihre Fragen zu seinem Wohnort und findet es merkwürdig, dass sie sich für Dinge interessieren, die seiner Ansicht nach ziemlich banal sind. Sie unterhalten sich unbekümmert wie alte Freunde und zugleich aufgekratzt wie neue Bekannte, die neue Geschichten auf Lager haben.
Bailey hat den Eindruck, dass Poppet und Widget sich nur für ihn und ihren Kakao interessieren.
»Was ist der Sterngucker?«, fragt er, als sie ihre leeren Becher und Tüten wegwerfen und ihm ein Schild auffällt, das er noch nicht gesehen hat.
»Hast du Lust?«, fragt Widget seine Schwester. Sie überlegt, dann nickt sie. »Poppet liest in den Sternen«, erklärt er Bailey. »Dort kann man die Zukunft am leichtesten erkennen.«
»In letzter Zeit ist es gar nicht leicht gewesen«, sagt Poppet leise. »Aber wir können damit fahren. Er ist nur in klaren Nächten geöffnet, und wer weiß, ob wir noch mal die Gelegenheit dazu haben.«
Sie treten ein und stellen sich in eine Schlange, die eine gewundene Treppe hochsteigt und vom Zeltinneren durch einen schweren schwarzen Vorhang getrennt wird.
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