Der Nachtzirkus
zwischen den Gräbern öffnen sich Regenschirme wie Pilze. Die feuchte Erde wird schnell zu Matsch, weshalb der Rest der Bestattung wegen des unwirtlichen Wetters beschleunigt wird.
Es gibt keinen richtigen Abschluss der Trauerfeier, vielmehr treten die Anwesenden unmerklich aus ihren ordentlichen Reihen und vermengen sich. Viele bleiben, um Lainie noch einmal ihr Beileid auszusprechen, andere entfernen sich und suchen Schutz vor dem Regen, noch ehe die letzte Schaufel Erde auf dem Sarg ruht.
Isobel und Tsukiko stehen abseits von Taras Grab unter einem großen schwarzen Schirm, den Isobel über ihre Köpfe hält. Obwohl Tsukiko beteuert, dass ihr der Regen nichts ausmache, schützt Isobel sie weiterhin, denn sie ist dankbar für die Gesellschaft.
»Wie ist sie gestorben?«, fragt Tsukiko. Schon den ganzen Nachmittag wurde diese Frage im Flüsterton gestellt und auf verschiedenste Weise beantwortet, allerdings nie befriedigend. Die mit den Einzelheiten vertrauten Personen sind nicht sehr gesprächig.
»Mir wurde erzählt, es war ein Unfall«, sagt Isobel leise. »Sie wurde von einem Zug überfahren.«
Tsukiko nickt nachdenklich und holt eine silberne Zigarettenspitze mit passendem Feuerzeug aus der Manteltasche.
»Wie ist sie wirklich gestorben?«, fragt sie.
»Wie meinst du das?«, erwidert Isobel und sieht sich um, ob jemand in Hörweite ist, doch die meisten Trauernden haben sich im Regen zerstreut. Nur eine Handvoll ist noch da, darunter Celia Bowen mit Poppet Murray, die sich an sie klammert und eher wütend als traurig aussieht.
Lainie und Mr Barris stehen neben Taras Grab. Der Engel schwebt so dicht über ihnen, dass er seine Hände auf ihre Köpfe legen könnte.
»Du hast Dinge gesehen, die du nicht für möglich gehalten hättest, stimmt’s?«, fragt Tsukiko.
Isobel nickt.
»Vielleicht sind solche Dinge noch schwerer zu begreifen, wenn man nicht unmittelbar an ihnen beteiligt ist. So schwer, dass sie einen in den Wahnsinn treiben. Der Verstand ist ein sensibles Organ.«
»Ich glaube nicht, dass sie absichtlich vor den Zug gesprungen ist«, sagt Isobel so leise wie möglich.
»Vielleicht nicht. Ich erwähne das nur als Möglichkeit.« Isobel zündet ihre Zigarette mit einem Streichholz an, das trotz der feuchten Luft sofort brennt.
»Es könnte ein Unfall gewesen sein«, sagt Isobel.
»Hattest du in letzter Zeit irgendwelche Unfälle? Knochenbrüche, Verbrennungen, irgendeine Verletzung?«, fragt Tsukiko.
»Nein«, antwortet Isobel.
»Warst du krank? Und sei es nur ein leichter Schnupfen?«
»Nein.« Isobel überlegt, wann sie zum letzten Mal angeschlagen war, aber ihr fällt nur eine Kopfgrippe vor zehn Jahren ein, im Winter, bevor sie Marco traf.
»Ich glaube, seit es den Zirkus gibt, ist niemand von uns krank gewesen«, sagt Tsukiko. »Und bis jetzt ist niemand gestorben. Seit den Murray-Zwillingen ist allerdings auch niemand mehr geboren worden. Obwohl es nicht an Versuchen mangelt, wenn man sich ansieht, was manche Akrobaten so treiben.«
»Ich …«, setzt Isobel an, kann aber nicht fortfahren. Das Ganze übersteigt ihren Verstand, und sie ist nicht sicher, ob sie es überhaupt verstehen will.
»Wir sind Fische in einem Aquarium, meine Liebe«, erklärt Tsukiko, deren Zigarettenspitze gefährlich schief von den Lippen baumelt. »Äußerst gut überwachte Fische. Von allen Seiten beobachtet. Wenn einer von uns nach oben treibt, dann passiert das nicht zufällig. Und wenn es ein Unfall war, sind die Bewacher leider nicht so sorgfältig, wie sie sein sollten.«
Isobel bleibt stumm. Sie wünscht, Marco wäre mit Chandresh gekommen. Gleichzeitig bezweifelt sie, dass er ihre Fragen beantworten würde, sofern er sich überhaupt auf ein Gespräch mit ihr einließe. Jede Kartenlesung, die sie heimlich zu diesem Thema gemacht hat, ist kompliziert gewesen. Und immer waren von seiner Seite aus starke Gefühle im Spiel. Sie weiß, dass ihm der Zirkus wichtig ist, und hatte nie einen Grund, daran zu zweifeln.
»Hast du schon mal jemandem die Karten gelegt, der nicht begriffen hat, was sie ihm sagen wollen, obwohl für dich schon nach einem kurzen Gespräch und einem Blick auf die Bilder alles klar war?«, fragt Tsukiko.
»Ja«, antwortet Isobel. Sie sind ihr zu Hunderten begegnet, Ratsuchende, die Dinge nicht so sehen wollten, wie sie waren. Die blind waren für Verrat und Liebeskummer, und immer stur, egal, wie behutsam sie es ihnen beibringen wollte.
»Es ist schwer, eine Situation so zu
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