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Der Nachtzirkus

Der Nachtzirkus

Titel: Der Nachtzirkus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erin Morgenstern
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großen Hut tritt jetzt ganz zur Seite und gibt Baileys Sichtfeld frei. Er hört abrupt auf zu klatschen, als er die junge Frau sieht, die das weiße Kätzchen aufgefangen hat und es neben das schwarze auf ihre Schulter setzt.
    Sie ist älter als erwartet, und ihr rotes Haar ist unter einer weißen Haube verborgen. Aber ihr Kostüm ähnelt dem, das sie anhatte, als er sie das letzte Mal sah: ein Patchworkkleid aus allen denkbaren Materialien, alle in schneeweißen Tönen, dazu eine weiße Jacke mit vielen Knöpfen und leuchtend weiße Handschuhe.
    Sie wendet den Kopf, Bailey begegnet ihrem Blick, und sie lächelt ihm zu. Nicht so wie einem beliebigen Zuschauer im Publikum, dem man gerade einen Zirkustrick mit ungewöhnlich talentierten Kätzchen vorführt, sondern wie jemandem, den man lange Zeit nicht gesehen hat. Bailey spürt den Unterschied, und es stimmt ihn merkwürdig froh, dass sie sich an ihn erinnert. Trotz der kalten Nachtluft werden seine Ohren ziemlich rot.
    Begeistert sieht Bailey sich den Rest der Vorstellung an und schenkt dem Mädchen weit mehr Aufmerksamkeit als den Kätzchen, die allerdings zu gut sind, um völlig ignoriert zu werden, und sich seine Aufmerksamkeit zeitweise zurückholen. Am Ende der Vorstellung verbeugen sich das Mädchen und der Junge (samt Kätzchen), worauf die Zuschauer klatschen und johlen.
    Bailey überlegt, was er sagen soll oder ob er überhaupt etwas sagen soll, während die Zuschauer sich langsam zerstreuen. Ein Mann schiebt sich vor ihn, eine andere Frau versperrt ihm seitlich den Weg, und er verliert das Mädchen aus den Augen. Als er sich durch das Menschengewimmel gewühlt hat, ist das Mädchen mitsamt dem Jungen und den Kätzchen nirgends mehr zu sehen.
    Die Menge ringsum schrumpft schnell auf ein paar wenige Gestalten, die den einzigen Weg auf und ab schlendern. Nur hohe gestreifte Zeltwände säumen die nähere Umgebung. Bailey dreht sich langsam im Kreis, um eine Ecke oder Tür zu finden, hinter der sie verschwunden sein könnten. Er ärgert sich gerade grün und blau, dass er ihr so nahe war und es vermasselt hat, da tippt ihm jemand auf die Schulter.
    »Hallo, Bailey«, sagt das Mädchen. Sie steht direkt hinter ihm. Die Haube hat sie mittlerweile abgenommen, und das rote wellige Haar hängt ihr offen über den Schultern. Statt der weißen Jacke trägt sie jetzt einen schweren schwarzen Mantel und einen Wollschal in leuchtendem Violett. Nur ihr gerüschter Kleidsaum und die weißen Stiefel weisen darauf hin, dass es sich um dasselbe Mädchen handelt, das hier noch vor wenigen Minuten aufgetreten ist. Ansonsten sieht sie aus wie jeder andere Zirkusbesucher.
    »Hallo«, sagt Bailey. »Ich weiß gar nicht, wie du heißt.«
    »Oh, entschuldige«, erwidert sie. »Ich habe ganz vergessen, dass wir uns nie richtig vorgestellt haben.« Als sie ihm die Hand entgegenstreckt, fällt Bailey auf, dass ihr weißer Handschuh größer ist als der, den sie ihm damals als Beweis für seine Wette mitgegeben hatte. »Ich bin Penelope, aber so nennt mich keiner, und der Name gefällt mir auch nicht, deshalb bin ich für alle nur Poppet.«
    Bailey nimmt ihre Hand und schüttelt sie. Selbst durch die beiden Stoffschichten ist sie wärmer als erwartet.
    »Poppet«, wiederholt Bailey. »Die Wahrsagerin hat den Namen erwähnt, aber ich wusste nicht, dass es deiner ist.«
    Das Mädchen lächelt ihm zu.
    »Du warst bei Isobel?«, fragt sie. Bailey nickt. »Ist sie nicht reizend?« Bailey nickt wieder, ohne recht zu wissen, ob die Antwort angemessen ist. »Hat sie dir was Gutes über deine Zukunft gesagt?«, fragt Poppet leiser, in dramatischem Flüsterton.
    »Sie hat mir vieles gesagt, was ich nicht verstanden habe«, gesteht Bailey.
    Poppet nickt verständnisinnig und sagt: »Das macht sie immer. Aber sie meint es gut.«
    »Darfst du einfach so hier draußen sein?«, fragt Bailey und zeigt auf den steten Strom der Zirkusbesucher, der an ihnen vorbeiwandert und sie völlig ignoriert.
    »Aber ja«, erwidert Poppet. »Solange wir inkognito sind.« Sie deutet auf ihren Mantel. »Die Leute schauen uns nicht so genau an. Stimmt’s, Widget?« Sie wendet sich einem jungen Mann zu, der neben ihr steht und den Bailey nie als Poppets Auftrittspartner erkannt hätte. Statt seines schwarzen Jacketts trägt er jetzt ein braunes aus Tweed, und sein Haar unter der passenden Mütze ist genauso leuchtend rot wie Poppets.
    »Die Leute sind nicht besonders aufmerksam, es sei denn, man gibt ihnen Grund

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