Der Nachtzirkus
und wollte ihn sogar noch, als er das bisschen Interesse, das er für sie empfand, schon lange verloren hatte. Eines Tages – ich war gerade fünf –, hat sie sich dann das Leben genommen. Als ich alt genug war, um alles zu verstehen, habe ich mir geschworen, für niemanden so zu leiden. Um mich zu verführen, braucht es sehr viel mehr als Ihr reizendes Lächeln.«
Doch als Celia ihn wieder ansieht, ist das reizende Lächeln verschwunden.
»Es tut mir leid, dass Sie Ihre Mutter auf so eine Weise verloren haben«, sagt Marco.
»Das ist lange her«, erwidert Celia, überrascht von seinem aufrichtigen Mitgefühl. »Aber vielen Dank.«
»Haben Sie noch viele Erinnerungen an sie?«
»Ich erinnere mich eher an Eindrücke als an wirkliche Begebenheiten. Ich erinnere mich an ihr ständiges Weinen. Ich erinnere mich daran, dass sie mich ansah, als müsse sie sich vor mir fürchten.«
»Ich erinnere mich gar nicht an meine Eltern«, sagt Marco. »Ich weiß nur, dass man mich aus dem Waisenhaus geholt hat, weil ich irgendwelche nicht näher beschriebenen Kriterien erfüllt habe. Ich musste sehr viel lesen, bin gereist, habe gelernt und wurde hauptsächlich darauf getrimmt, an einem geheimen Spiel teilzunehmen. Genau das habe ich fast mein ganzes Leben lang getan – neben Buchhaltung, Rechnungswesen und was Chandresh sonst noch von mir wollte.«
»Warum sind Sie so ehrlich zu mir?«, fragt Celia.
»Weil es erfrischend ist, ausnahmsweise mal wirklich ehrlich zu sein«, erwidert Marco. »Außerdem nehme ich an, dass Sie merken würden, wenn ich Sie anlüge. Ich hoffe, ich darf das Gleiche von Ihnen erwarten.«
Celia überlegt kurz, bevor sie nickt.
»Sie erinnern mich ein bisschen an meinen Vater«, sagt sie.
»Und warum?«
»Wegen der Art, wie Sie die Wahrnehmung manipulieren. Ich selbst konnte das nie sehr gut, ich verstehe mich besser auf greifbare Dinge. Im Übrigen können Sie das bei mir gerne bleiben lassen«, fügt sie hinzu, als sie endlich weiß, was sie an seinem Äußeren so verstört.
»Was bleiben lassen?«, fragt Marco.
»So auszusehen. Sie können das sehr gut, aber ich merke genau, dass es nicht ganz echt ist. Es muss schrecklich anstrengend sein, diese Miene ständig aufrechtzuerhalten.«
Marco runzelt die Stirn, und dann verändert sein Gesicht sich allmählich. Das Ziegenbärtchen wird kleiner und verschwindet. Die kantigen Gesichtszüge werden weicher und jünger. Seine auffälligen grünen Augen verblassen zu einem grünstichigen Grau.
Das falsche Gesicht hatte gut ausgesehen, sicher, aber es war aufgesetzt. Als wäre ihm seine Attraktivität nur zu bewusst, eine Eigenschaft, die Celia ausgesprochen unsympathisch fand.
Und da war noch etwas, eine gewisse Hohlheit – vermutlich eine Folge der Täuschung –, der Eindruck, dass er gar nicht richtig anwesend war.
Aber jetzt steht ein anderer Mensch vor ihr, jemand, der viel präsenter ist, als wäre eine Schranke zwischen ihnen gefallen. Sie fühlt sich ihm näher, obwohl der Abstand zwischen ihnen gleich geblieben ist. Und sein Gesicht ist immer noch schön.
Der Blick aus diesen Augen ist noch intensiver als zuvor, ihre Farbe lenkt sie nicht mehr ab, wenn sie tief hineinschaut.
Celia spürt, wie ihr die Hitze ins Gesicht steigt, und kann gerade noch verhindern, dass die Röte im Kerzenlicht sichtbar wird.
Und dann dämmert ihr, warum ihr etwas an diesem Blick auch vertraut ist.
»Ich habe Sie schon so gesehen«, sagt sie und ordnet seinen wahren Gesichtsausdruck einem Platz in ihrer Erinnerung zu. »Sie waren in meiner Vorstellung.«
»Erinnern Sie sich an sämtliche Zuschauer?«, fragt Marco.
»Nicht an alle«, sagt Celia. »Aber an die, die mich so ansehen wie Sie.«
»Und wie wäre das?«
»Als könnten Sie sich nicht entscheiden, ob Sie Angst vor mir haben oder mich küssen wollen.«
»Ich habe keine Angst vor Ihnen«, sagt Marco.
Im flackernden Kerzenlicht sehen sie sich eine Weile schweigend an.
»Was für ein Aufwand für einen kaum merklichen Unterschied«, sagt Celia.
»Es hat seine Vorteile.«
»Ich glaube, ohne gefallen Sie mir besser«, sagt Celia. Marco wirkt so verblüfft, dass sie hinzufügt: »Habe ich nicht gesagt, dass ich ehrlich bin?«
»Sie schmeicheln mir, Miss Bowen. Wie oft sind Sie schon hier gewesen?«
»Ein Dutzend Mal mindestens.«
»Und trotzdem hat man Ihnen noch nie das Haus gezeigt.«
»Bisher wurde mir das nie angeboten.«
»Chandresh hat das auch nicht so gern. Ihm ist es lieber, dass
Weitere Kostenlose Bücher