Der Nachtzirkus
wünsch dir eine gute Nacht«, fügt sie hinzu und tritt einen Schritt zurück.
»I-ich dir auch«, antwortet Bailey. »Gute Nacht.« Er winkt, bis sie wieder durch den schweren Vorhang geschlüpft sind, dann dreht er sich um und geht nach Hause.
Es kommt ihm wie eine Ewigkeit vor, seit er zum Zirkus aufgebrochen ist, dabei ist es nur ein paar Stunden her. Außerdem hat er das Gefühl, als wäre der Bailey, der den Zirkus betreten hat, ein vollkommen anderer als der, der ihn jetzt mit einer silberfarbenen Eintrittskarte in der Tasche verlässt. Er überlegt, welches der echte Bailey ist, denn der Bailey, der oft stundenlang allein im Baum saß, ist bestimmt nicht der Bailey, dem man bevorzugten Eintritt zu einem phantastischen Zirkus gewährt und der wie von selbst so interessante Freunde findet.
Als er die Farm erreicht, weiß er genau, dass der jetzige Bailey eher so ist, wie er eigentlich sein soll, mehr als der alte Bailey, der er noch am Tag zuvor gewesen ist. Er begreift vielleicht nicht genau, was das alles zu bedeuten hat, aber im Augenblick spielt es wohl auch keine große Rolle.
In seinen Träumen ist er ein Ritter auf einem Pferd, der ein silbernes Schwert zückt. Und das, findet er, ist gar nicht so seltsam.
Tête-à-Tête
LONDON, AUGUST 1896
D as Mitternachtsdinner ist heute Abend trotz der vielen Gäste gedämpft. Der Zirkus, vor kurzem aus Dublin abgereist, bereitet sich gerade auf ein Gastspiel in der Nähe von London vor, so dass auch einige Artisten anwesend sind. Mr Barris ist ebenfalls aus Wien angereist.
Celia Bowen unterhält sich während des gesamten Essens fast nur mit Mme. Padva, die in lapislazuliblaue Seide gekleidet zu ihrer Linken sitzt.
Celias Kleid ist ein Padva-Entwurf. Ursprünglich war es für ihre Auftritte gedacht, wurde dann aber für ungeeignet erachtet, weil das Licht sich in jeder Falte und jeder Wölbung des silbrigen Stoffs fing und die Aufmerksamkeit zu sehr ablenkte. Celia fand die Wirkung so schmeichelhaft, dass sie das Kleid nicht aufgeben wollte und es jetzt zu gewöhnlichen Anlässen trägt.
»Da kann jemand nicht die Augen von Ihnen lassen, meine Liebe«, bemerkt Mme. Padva und neigt ihr Glas dezent in Richtung Tür, wo Marco mit auf dem Rücken verschränkten Händen steht.
»Vielleicht bewundert er ja Ihre Schneiderkunst«, sagt Celia, ohne sich umzudrehen.
»Ich würde wetten, dass er mehr am Inhalt als am Kleid interessiert ist.«
Celia lacht nur, aber sie weiß, Mme. Padva hat recht. Schon den ganzen Abend spürt sie Marcos Blick auf ihrem Nacken, und sie findet es zunehmend schwierig, ihn zu ignorieren.
Seine Aufmerksamkeit wird nur einmal von Celia abgelenkt, als Chandresh ein schweres Kristallglas umwirft, das nur haarscharf einen Kandelaber verfehlt und Rotwein über die goldene Brokattischdecke verschüttet.
Doch bevor Marco reagieren kann, ist Celia, die Chandresh gegenübersitzt, schon auf den Füßen und richtet das Glas wieder auf, ohne es zu berühren, ein Detail, das nur Chandresh genau sieht. Als sie die Hand zurückzieht, ist das Glas gefüllt wie zuvor und die Tischdecke fleckenlos.
»Ungeschickt, ungeschickt«, murmelt Chandresh und sieht Celia misstrauisch an, dann wendet er sich ab und redet weiter mit Mr Barris.
»Sie sind ja schnell wie der Wind«, bemerkt Mme. Padva zu Celia.
»Ich bin auch schnell durch den Wind«, sagt Celia, worauf Mr Barris sein Glas ebenfalls fast umwirft und Mme. Padva kichert.
Während des restlichen Essens behält Celia Chandresh aufmerksam im Auge. Die meiste Zeit bespricht er mit Mr Barris irgendeine Renovierung im Haus und wiederholt sich dabei mehrmals, was Mr Barris taktvoll übergeht. Chandresh rührt sein Weinglas nicht mehr an; als es am Ende des Gangs abgeräumt wird, ist es immer noch voll.
Nach dem Essen geht Celia als Letzte. In der allgemeinen Aufbruchstimmung verlegt sie ihr Schultertuch und will nicht, dass die anderen auf sie warten, während sie es sucht.
Es ist nicht ganz einfach, im einzigartigen Chaos des Lefèvre’schen Hauses ein elfenbeinfarbenes Spitzentuch ausfindig zu machen. Weder in der Bibliothek noch im Speisezimmer kann sie es finden.
Schließlich gibt sie die Suche auf und geht ins Foyer zurück, wo Marco mit ihrem lässig über dem Arm gefalteten Schal neben der Tür steht.
»Suchen Sie vielleicht das, Miss Bowen?«
Er macht Anstalten, ihr das Tuch über die Schultern zu legen, doch die Spitze löst sich zwischen seinen Fingern auf und zerfällt zu Staub.
Als
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