Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Name der Finsternis: Roman (German Edition)

Der Name der Finsternis: Roman (German Edition)

Titel: Der Name der Finsternis: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Binder
Vom Netzwerk:
geknüpft und das wunderbare war, dass all diese Menschen in einer Atmosphäre von Frieden
    und gelöster Heiterkeit aufeinandertrafen. Nie gab es Probleme, nie Gewalt, nie Ausschreitungen. Ein Seminar war ein abgeschiedener Freiraum, in dem sich
    jeder als spirituell erwachter Mensch, weit entfernt von den Schwierigkeiten seines sonstigen Lebens, präsentieren konnte. Neuinteressenten, die ein
    Seminar besuchten, waren entzückt von dieser Atmosphäre völliger Befreitheit, die ohne Drogen, ohne Alkohol, ohne laute Musik oder andere Stimuli auskam,
    von dem immerwährenden Lächeln auf den Gesichtern der Atmas, von der Leichtigkeit, mit der sich Anschluss an diese Gemeinschaft finden ließ. Seminare waren
    die wichtigsten Werbeveranstaltungen für die Liga. Nur wer mehr über die Liga wusste, wer mit kritischem Blick schaute, sah die feinen Risse in dieser
    Gemeinschaft der Seligen, bemerkte den Dünkel der höheren Eingeweihten, die Ehrfurcht der unteren Chargen, die sich eifersüchtig um Lireps und
    Liga-Pioniere drängten, die emsige Geschäftigkeit derer, die eine Verantwortung trugen und sich durch übertriebene Wichtigtuerei hervortaten, die Intrigen
    in den lokalen Zentren, die auf Seminaren weitergesponnen wurden. Ich hatte mir kaum jemals wirklich über die Atmas Gedanken gemacht. Sie hatten mich nie
    interessiert, waren einfach da gewesen, um die Seminarsäle zu füllen, die Bücher und Kurse zu kaufen, die Schulungen zu belegen. Es hatte mich manchmal
    verblüfft, dass ihre Zahl so rasch und unaufhaltsam wuchs, dass viele von ihnen ihr ganzes Leben der Liga widmeten, sich freiwillig und unentgeltlich für
    die lokalen Liga-Zentren aufarbeiteten, fanatisch missionierten, große Summen spendeten, sich bedingungslos allen Vorschriften des Hauptquartiers
    unterwarfen. Als Menschen aber hatten sie mich nie interessiert. Wenn ich bei einem Seminar anwesend war, dann nur, um den Mahaguru zu begleiten, um
    wichtige Leute zu treffen, um im inneren Kreis Entscheidungen zu fällen. Vom Seminar selbst bekam ich meist nur den Vortrag des Mahaguru mit, auf einem
    Platz in den Kulissen oder auf einem reservierten Sitz in der ersten Reihe. Die Menschen, die den Saal füllten, die zur Bühne brandeten, wenn der Mahaguru
    seinen Segen gab, waren von geringem Interesse für mich, sie waren eine anonyme, nicht greifbare Masse, wie die Leserschaft eines Bestsellerautoren oder
    das Publikum eines Popstars. Ich liebte sie nicht, ich verachtete sie nicht, ich nahm sie als gegeben, obwohl ich das gleiche Lächeln lächelte, wenn ich
    mich in ihrer Mitte bewegte und die gleichen Rituale oberflächlicher Erfreutheit praktizierte, wenn ein Liga-Pionier mich erkannte und begrüßte. Auf diesem
    Seminar aber, als ich mit eben dem zur Gewohnheit gewordenen Lächeln auf den Lippen durch den Strom der Atmas schlenderte, mich treiben ließ, Fetzen ihrer
    Gespräche aufschnappte, ihre Gerüche atmete, ihr Lachen hörte, nahm ich die Menschen der Liga zum ersten Mal als Menschen wahr, als lebende Organismen, die
    ein Schicksal hatten und einen Tod, Sorgen und Freuden, Ängste und Neurosen, Alltagsprobleme und Krankheiten, Vorlieben und Leidenschaften, und die zum
    Seminar gekommen waren, um eben das hinter sich zu lassen, um in der Betäubung des Hju aufzugehen. Die Liga bot ihnen die bequeme Möglichkeit, vor sich
    selbst zu fliehen. Ich musste lachen. Damit also machten wir unser Geschäft – wir boten eine Gelegenheit zur Flucht, wir waren ein religiöses
    Unterhaltungsunternehmen, das rührendere Illusionen verkaufte als die anderen, das wirksamer einlullte, unwiderstehlicher verführte. Zugleich empfand ich
    Mitleid mit den Atmas, weil sie ihr Leben in eine Lüge investierten, ihre Hoffnungen, ihre Träume, ihr spirituelles Streben, ihre Zeit, ihr Geld – in ein
    Trugbild, das ich selbst mit erschaffen hatte.
    Die Leute drängten sich an den Zugängen zur großen Halle. Die erste Rede des Seminars würde bald beginnen. Ich nahm ein Programmheft von einem Infotisch,
    um zu sehen, wer dieses so wichtige Seminar eröffnen würde. Nancy Williams, eine der frühen Schülerinnen Jasons, eine Matrone aus Nebraska, die in Kreisen
    der Atmas fast kultische Verehrung genoss, weil sie mit trockenem Humor und herzlicher Ruppigkeit die Liga-Prinzipien in zündende Anekdoten zu packen
    wusste. Ich überlegte, was eine Frau wie Nancy, die mit beiden Beinen im Leben stand, über so viele Jahre bei der Liga gehalten hatte, durch alle
    Turbulenzen der

Weitere Kostenlose Bücher