Der Name der Finsternis: Roman (German Edition)
Ethik-Hüter Walt gefunden haben?“
„Man hat Sie als Pfadfinder missbraucht.“
Die Erkenntnis, dass er die Mörder zu Walt geführt hatte, traf Aron wie ein Hieb. Minutenlang war er unfähig zu sprechen.
„Aber das Gelbe Buch… Ich hatte es doch schon in Händen…“ stammelte er schließlich.
„Sie suchten nicht das Gelbe Buch. Walt war ein lebendes Gelbes Buch. Er hätte es jederzeit wieder schreiben können. Es ging um Walt selbst, vor allem aber
um eine Steintafel mit dem Zeichen der Liga, einen Stein, den Walt Mason auf seiner Flucht bei sich trug.“
Aron glaubte alle Gefühle in sich abgestorben. Nur die Bilder hinter der Wand aus Finsternis standen klar vor seinem Geist und zugleich die schreckliche
Gewissheit der Gegenwart.
Timur legte seine Hände auf Arons Schultern. „Trinken Sie.“
Aron, unfähig, ein Wort zu sprechen, gehorchte mechanisch. Der heiße, süße Tee tat ihm wohl.
„Sie tragen keine Schuld,“ fuhr Timur fort. „Dinge geschehen, weil sie geschehen müssen. Ich versuchte Walt zu warnen, noch heute Mittag am Telefon,
nachdem Sie bei ihm gewesen waren. Ich bat ihn mit allem Nachdruck, er solle sofort das Haus verlassen, zu mir in dieses Kloster kommen, aber er wollte
nicht hören. Er war müde, ausgebrannt von seiner Flucht. Er wollte uns beide am Abend empfangen, freute sich, war enthusiastisch, wollte nichts hören von
Gefahren, glaubte sich sicher.“
„Woher wussten sie, dass Walt den Stein besitzt?“ brachte Aron hervor.
„Vielleicht haben sie eine Kopie dieses Tonbandes gehört, das Walt auch mir hat zukommen lassen.“
„Das ist nicht möglich,“ rief Aron erregt. Das gefährliche Band lag noch immer unauffällig zwischen seinen Musikkassetten im Wohnheim oder war in der
Zwischenzeit zusammen mit seinen anderen Habseligkeiten in Umzugskartons im Keller des Liga-Zentrums eingelagert.
Timur lenkte ab: „Sie haben aufwühlende Bilder gesehen in Ihrer Ohnmacht, wenn man den Zustand, in dem Sie sich befanden, überhaupt Ohnmacht nennen kann,“
sagte Timur.
„Woher wissen Sie das?“
„Ich habe es an Ihren Augen gesehen.“
Aron sah ihn fragend an.
„Ich hatte einmal Gelegenheit, einem sehr seltenen Ritual beizuwohnen. Hohe tibetische Lamas befragten das Cha-Orakel, ein Spiegel-Orakel, in dem ein Kind
in einen besonderen, aus sieben verschiedenen Metallen gefertigten Spiegel blickt und auf Fragen der Lamas Antwort gibt. Meist geht es um das Auffinden der
Wiedergeburt eines Rinpoche. Die Lamas erkennen an den Augen des Kindes, ob es tatsächlich etwas erblickt in diesem Spiegel. Als ich Sie aufhob, erinnerten
mich Ihre Augen an die Augen jenes Kindes, das in den Spiegel der Zeit blickte. Aber verzeihen Sie meine Neugierde.“
„Der Schock über Walts Tod hat eine Mauer in mir zerbrochen, hinter der mächtige Erinnerungen verborgen waren. Ich habe wirklich in einen Spiegel der Zeit
geblickt.“
„Wollen Sie darüber sprechen?“
Zutrauen zu Timur überkam Aron plötzlich, der Wunsch, sich zu öffnen, den Schmerz, der noch in ihm war, in Worte zu formen, in gesprochene Bilder. Er
begann zu reden, erzählte von Bens Tod, von dem Tonband, von zaghaft aufkeimenden Zweifeln an der Liga, von Bali, von Judith, von der Audienz beim
Mahaguru, von Blackwater, von den Nokam und der Großen Einweihung Panettas, deren verlorene Erinnerungen nun wieder hervorgetreten waren. Und er erzählte
von den leuchtenden Eindrücken seiner Leben in Atlantis und Ägypten, von dem Stein mit dem Zeichen, das heute Symbol der Liga war.
Timur hörte schweigend zu, unterbrach Aron nie, goss manchmal Tee nach, nickte, wenn Aron ihn fragend anblickte, schien wie ein weiter, offener Raum, in
den Arons Erinnerungen hineinwachsen konnten, ohne an Grenzen zu stoßen.
„Der Mahaguru hat mich belogen in der Audienz,“ sagte Aron. „Er hat die Wahrheit über die Vergangenheit so verbogen, dass es seiner Sache nützte. Seine
Erzählung von Atlantis enthielt einen Kern der Wahrheit, und doch war sie verdorben von Lüge.“
„So ist das Wesen der dunklen Kraft,“ antwortete Timur ruhig.
„Darf ich heute Nacht bei Ihnen bleiben?“, fragte Aron, als die Worte versiegten und eine Weile Stille im Raum stand.
„Die Nacht ist fast vorbei,“ sagte Timur. „Ich höre die Mönche auf den Gängen. Sie gehen zur Morgenpuja. Schlafen Sie eine Weile. Sie müssen erschöpft sein
nach diesem langen Tag. Ich lasse Sie alleine, gehe hinunter zu den Mönchen im Dukhang. Seien Sie
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