Der Name der Finsternis: Roman (German Edition)
Wege. Die Nacht war schneidend kalt. Als Aron mit den beiden EHs den kegelförmigen Hügel zum Haus des
Mahaguru hinaufstieg, blickte er zum Himmel. Die Sterne glitzerten wie Eis. Der Kies unter seinen Schuhen knirschte. In der Linken trug Aron den Rucksack
mit dem Gelben Buch, seine Rechte aber hielt Timurs Stein in der Jackentasche. Seine Fingerkuppen spürten die eingemeißelten Hieroglyphen, den rauen,
gebrochenen Rand, die unwirklich kühle Glätte der Oberfläche.
Ein EH empfing sie wortlos, schloss die Tür hinter ihnen. Gleich neben dem Eingang führte eine steile Wendeltreppe in die Tiefe. Sie stiegen lange hinab,
im trüben, kalten Licht winziger Wandlampen. Teppichboden bedeckte die Stufen, um das Geräusch der Schritte zu dämpfen. Ein Anflug von Beklemmung wischte
durch Arons Wahrnehmung, ein Windhauch der Angst, der aber verflog, ohne auf dem stillen Meer seines Geistes eine Regung zu erzeugen. Er bemerkte es wie
etwas, das außerhalb von ihm geschah. Eine schwarze Eisentür öffnete sich am Ende der Treppe.
Dumpfe Hitze schlug Aron entgegen. Er erkannte den Raum, in den er trat, augenblicklich wieder. Avatar Yortam hatte ihn in dem plastischen Traum hergeführt
in jener Nacht in Blackwater, über die Brücke in das lichtlose Land der Nokam. Der Schein einer einzelnen Flamme erhellte schwach die Kammer des Mahaguru,
ließ Schatten an den rohen Steinblöcken der Wände zittern. In einer Metallschale in der Mitte des Raumes sprang die hohe, schlanke Flamme, wies hinauf zur
verdunkelten Spitze der Pyramide. In Arons Traum war der pyramidenförmige Raum von den schwarzen Silhouetten der Nokam gefüllt gewesen. Sie waren im Kreis
um das tanzende Feuer gestanden, in dessen Flammen Patrick Panetta die Große Einweihung erhalten hatte. Aron hatte damals nicht unterscheiden können
zwischen Personen in ihrer menschlichen Form und Schattenwesen, die durch die Tore der Finsternis gekommen waren. Nun, da er diesen Raum in der wirklichen
Welt betrat, sah er nur die Menschen, die sich versammelt hatten, um ihn zu empfangen, aber er fühlte die Macht der Nokam, wusste, dass auch die dunklen
Geschöpfe anwesend waren, um die Große Einweihung zu vollziehen. Ihre Kraft stand körperhaft im Raum, nahm Aron für Augenblicke den Atem, dass er zögerte,
die Schwelle zu überschreiten. Einen Moment glaubte er, aus seinem Zustand innerer Unberührtheit in Panik abzustürzen, spürte, wie dünn die Scheidewand war
zwischen der mühelos leichten Gefasstheit und dem tobenden Meer der Ängste und Emotionen. Aber auch dies nahm Aron losgelöst wahr, wie ein Zeuge, der
fremdes Geschehen betrachtet.
Seine Augen gewöhnten sich an das Dämmerlicht. Hinter der Flamme saßen Ken Andersen und Patrick Panetta unbeweglich wie Puppen auf hölzernen Sesseln und
starrten Aron an. Ein dritter Sessel stand zwischen ihnen. Hinter den beiden Führern der Liga verharrten, fast verloren im Halblicht, zwei EHs. Vor dem
Feuer aber, auf einem mit schwarzem Samt gedeckten Altar, lag das Siegel des Be’el. Aron erkannte es sofort, spürte die pulsierende Energie, die aus ihm
strahlte, sah Bilder seines Lebens als Priester des Amun vorüberhuschen, als er diese Tafel aus der Wand des Tempels gebrochen hatte.
„Tritt ein, Aron,“ hörte er die sanfte Stimme des Mahaguru. Aron überrieselte es kalt, obwohl er merkte, dass er zu schwitzen begann in der Bruthitze der
Kammer. „Willkommen im Heiligtum der Nokam.“
Aron spürte unerträgliche Falschheit in der Stimme des Mahaguru. Die EHs, die Aron begleitet hatten, stellten sich wortlos zu den anderen.
„Du befindest dich im innersten Kreis der Liga,“ fuhr der Mahaguru fort. „Diese Söhne des Hju haben die Einweihung in das Wissen und die Macht der Nokam
erhalten.“ Er wies auf die EHs, die unbeweglich hinter ihm und Panetta Wache hielten. „Sie wissen um die Geheimnisse von Blackwater und sind bestimmt, für
das Wohl jener kostbaren Körper Sorge zu tragen, in denen die Nokam Wohnung nehmen werden. Zwei der Uralten weilen heute schon in der Pyramide höchster
Weisheit, ein dritter, Avatar Yortam, wird in dieser Nacht die Brücke überqueren.“
Aron zwang sich, zu nicken. Er spürte, wie Wellen dunkler Kraft sein weites, klares Bewusstsein einengten, wie sie ihn wütend zu ergreifen suchten, doch
abglitten, weil sie keinen Widerstand fanden, keinen Gedanken, keine Emotion, an der sie sich festzuhaken vermochten.
„Du hast deine Aufgabe zu unserer Zufriedenheit
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