Der Name der Finsternis: Roman (German Edition)
des Be’el ausgeliefert hatte.
Aron nahm Judith an der Hand und zog sie aus der Tür. Judith schien ihm nur widerstrebend zu folgen, mit ungelenken Schritten, als wollten ihre Beine nicht
gehorchen. Das letzte, das Aron in der Kammer der Nokam sah, war der Mahaguru, der fassungslos auf die Brocken und Splitter der beiden Steine starrte.
Durch die Flamme der schwarzen Schale hindurch sah er das Gesicht des Mahaguru, auf dem sich wachsende Verzagtheit malte. Aron spürte Mitgefühl für diesen
Menschen, der zum Schemen dunkler Kraft geworden war. Einen winzigen Augenblick nur verharrte er, schaute, bevor mit dumpfem Schlag die Eisentüre ins
Schloss fiel. Wie ein Erstickender atmete Aron die Luft des Treppenhauses. Er schob Judith die Wendeltreppe hinauf. Judith folgte Arons Drängen wie eine
Schlafwandlerin. Als sie ins Freie traten, als sie die frische Nachtluft einsogen, den klaren, sternübersäten Himmel über der Wüste von Blackwater sahen,
hielten sie einen Moment inne.
„Mein Wagen,“ sagte Judith. Sie erwachte aus ihrer Erstarrung. „Sie haben mich unter einem Vorwand nach Blackwater gelockt. Eine Reportage. Ohne
Fotografen. Ich bin mit meinem eigenen Wagen gekommen.“
Sie eilten den Hügel hinunter. Stille lag über den dunklen, leeren Häusern. Aron schien es wie ein Traum, was in der Kammer unter dem Haus des Mahaguru
geschehen war, ein Traum, aus dem er nun für immer erwacht war, der keine Wirklichkeit mehr besaß. Der Wagen, in dem die EHs Aron hergebracht hatten, stand
in der Nähe von Judiths Auto.
Aron zögerte. Sein Gepäck fiel ihm ein. Nichts von ihm sollte bleiben an diesem Ort der Finsternis. Als er seine Tasche aus dem Wagen der EHs hob, hörte er
die Detonation, ein dumpfes Grollen, das für einen Augenblick die Erde erzittern machte. Die Tasche entglitt ihm. Judith schrie auf, taumelte einige
Schritte zurück. Ein Stück des Hügels, auf dem das Haus des Mahaguru stand, rutschte ab und zeigte, wie einen Knochen, der sich aus rohem Fleisch schält,
die helle, glatte Außenwand der Pyramide, fahl schimmernd im Dämmerlicht der Gartenlampen.
Judith drängte sich an Aron. Er hielt sie, drückte ihren Kopf an seine Schulter, vergrub seine Hände in ihr Haar. Er schloss die Augen, sah den Abgrund des
Feuers, den klingenscharfen Bogen der Brücke, hörte das Heulen des Windes, das Brausen des Hju. Plötzlich verstummte es, erlosch in einem Vakuum absoluter
Stille. Für einen Augenblick erstarrte die Zeit.
Dann wankte die Brücke, brach lautlos, fiel in Trümmern hinab in die Schlucht. Aron sah die Glut aufkochen wie rote Gischt, sah das Dunkel zusammenstürzen
über sinkenden Flammen, spürte stille Leere, Raum, weiten, endlosen Raum.
Epilog
Sektenführer begehen kollektiven Selbstmord
Eigener Bericht
– Wie erst gestern bekannt wurde, hat die Führungselite der religiösen Organisation „Liga“ vergangene Woche in ihrem Schulungszentrum Blackwater gemeinsam
Selbstmord begangen. Ein leitender Mitarbeiter des Liga-Hauptquartiers in San Francisco, der in Blackwater einen Termin wahrnehmen wollte, fand die
verbrannten, mittlerweile identifizierten Leichen von zehn Menschen in einem unterirdischen pyramidenförmigen Raum auf der ansonsten verlassenen ehemaligen
Farm in Westarizona. Unter den Toten befinden sich der geistige Führer der Liga, „Mahaguru“ Ken Andersen, der Liga-Präsident Patrick Panetta, der angeblich
einflussreichste Liga-Repräsentant Europas Peter Crapp sowie Edith Wolff, eine Deutsche, die zu den ranghöchsten „Eingeweihten“ der Liga gehörte. Wolff war
mehrere Jahre mit Walt Mason verheiratet, einem Mitbegründer der Liga, der wenige Tage vor der Tragödie von Blackwater ermordet in Kathmandu (Nepal)
aufgefunden wurde. Wie die Ermittlungsbehörden mitteilten, sind die übrigen Toten Offiziere einer ligaeigenen Sicherheitstruppe. Die Mitglieder der
Liga-Führungselite kamen durch die Explosion einer Handgranate ums Leben, einer der Offiziere, der sich offenbar dem gemeinschaftlichen Selbstmord
entziehen wollte, wurde vorher erschossen. Die Behörden schließen einen Überfall oder sonstige äußere Einwirkung aus. Der Raum sei von innen verschlossen
gewesen und die Opfer wiesen keinerlei Spuren auf, die darauf schließen lassen, dass sie unfreiwillig in den nur durch eine enge Wendeltreppe erreichbaren
Raum gebracht wurden. Kenner der Liga spekulieren, dass der als psychisch labil geltende, bei einem Attentat schwer verletzte Andersen
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