Der Name der Finsternis: Roman (German Edition)
besser wissen als ich. Es mag sein, dass solche Rituale noch irgendwo in abgelegenen Dörfern stattfinden, aber
keiner von uns weiß etwas davon und wir wollen auch nichts davon wissen. Bali ist eine moderne Provinz des modernen Indonesien, einer aufstrebenden
wirtschaftlichen Großmacht, wie euch zweifellos bewusst ist, und Indonesien ist bekanntlich vor allem ein islamisches Land. Den Muslimen sind solche
heidnischen Riten ein noch größerer Dorn im Auge als der Liga, die in religiösen Fragen äußerst tolerant ist.“
Judith verdrehte die Augen. „Wir sind nicht nach Bali gekommen, um die Aufführungen einer staatlichen Tanzschule zu besuchen wie gewöhnliche Touristen.
Außerdem halte ich Kulturen wie die balinesische nicht für Ausgeburten irgendeines barbarischen Aberglaubens, sondern für Zeugnisse echter Religiosität…
die zumindest aus kulturellem Interesse bewahrt werden sollten.“
„Oho,“ machte Putnam belustigt. „Es wimmelt neuerdings von Romantikern und Nostalgikern. Du hältst wohl recht wenig von der Vision der Weltkultur, wie sie
im
Buch der Erleuchtung
erklärt wird.“
„Ganz im Gegenteil. Nur ist für mich der Aufbau eines spirituellen Weltbewusstseins nicht gleichbedeutend mit der Zerstörung von kulturellem Erbe, das die
Identität ganzer Völker ausmacht. Das
Buch der Erleuchtung
spricht von einer Verbindung individueller Lebensart und universalen Geistes. Nirgends
steht, dass wir die alten Kulturen platt walzen sollen.“
„Ich behaupte nichts anderes. Die Kunstschule von Denpasar bewahrt das traditionelle Kulturgut auf vorbildliche Weise. Sie hat eine Reihe von Anerkennungen
der Regierung erhalten.“
„Kunst und Kultur sind in den wenigsten Fällen Sache von Regierungen.“
„In Indonesien ist das anders. Die Regierung hält viel von der Pflege lokaler Folklore. Die Kunstschule von Denpasar bildet die besten Tänzer und Musiker
der Insel aus. Vor einem Monat hättet ihr das Dorffest hier in Sanur als Kontrast erleben können – junge Mädchen, die ihren Müttern einige Bewegungen
abgeschaut haben, werden in die alten Trachten gesteckt und führen etwas auf, das mit den echten Tänzen nichts mehr zu tun hat, aber gleich danach zeigen
sie bei Popmusik, was sie wirklich können. Das alte Bali ist eine Illusion, die nur noch für die Touristen aufrechterhalten wird. Gottlob, denn sonst fiele
unsere Missionsarbeit nicht auf so fruchtbaren Boden. Und Hahnenkämpfe, meine Liebe, sind seit Langem streng verboten. Außerdem kann ich mir nicht
vorstellen, dass solche abscheulichen Grausamkeiten von Interesse für die Leser der
Wahrheit
sind.“
„Was für die Leser der
Wahrheit
von Interesse ist oder nicht, entscheidet die Chefredaktion. Und was für die Journalisten der
Wahrheit
von Interesse ist, entscheiden nur diese allein. Lass mich mit deinen Folkloretruppen in Ruhe. Die kann ich auch zu Hause im ethnologischen Museum sehen.“
„Dort gehören sie auch hin! Soweit ich informiert bin, soll euer Artikel auch die Missionsarbeit in Indonesien behandeln. Ihr werdet auf Java ein
landwirtschaftliches Projekt besuchen, das von einer der Liga verbundenen Firma zusammen mit der Regierung betrieben wird. In Jakarta werdet ihr hoch
motivierte indonesische Geschäftsleute bei einer Liga-Erfolgsschulung erleben. Und ihr werdet der Vortragsreihe beiwohnen, die hier im Missionszentrum
stattfindet. Das wird euch einen guten Eindruck unserer Arbeit im modernen Indonesien vermitteln. Selbstverständlich habt ihr dabei auch Gelegenheit, mit
einheimischen Atmas zu sprechen. Ihr könnt gerne auch bei dem Computerkurs vorbeischauen, den wir für die Kids aus den Dörfern abhalten. Ein nettes Motiv
für Mark: kleine braune Jungs in Batiktüchern, die begeistert im Internet surfen. Man kriegt die Burschen gar nicht mehr weg von den Bildschirmen. Das ist
übrigens einer der Gründe, warum die Regierung überhaupt eine Liga-Mission zulässt – wir bringen den Leuten die Technologie des Westens nahe. Unsere Vision
der Weltkultur geht durchaus konform mit den Plänen vieler Regierungsleute. Auch unser Schulungsprogramm findet großen Anklang in der Oberschicht. Es zeigt
sich einmal mehr, wie vorausschauend Mahaguru Howard war.“
Judith blitzte den Missionsleiter zornig an. „Wir sind nur eine Woche hier und sind deswegen bei unserer Recherche auf die Mitarbeit der Mission
angewiesen. Aber das bedeutet nicht, dass uns die Mission vorschreibt, was wir zu tun und zu lassen
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