Der Name der Finsternis: Roman (German Edition)
jeder ihrer Texte strikt in Übereinstimmung mit dem
Buch der Erleuchtung
. Die Wahrheit hatte einen Glücksgriff mit ihr getan und es war kein
Geheimnis, dass ihr im Medienbereich der Liga eine große Karriere bevorstand. Die
Wahrheit
war eine modern aufgemachte Publikation, die sich vor
allem an Atmas wandte und an Interessenten, die bereits mit den Grundlagen der Lehre vertraut waren. Artikel des Mahaguru erschienen in ihr und Beiträge
bekannter Liga-Pioniere, aber auch Reportagen über das Leben und Arbeiten von Atmas in aller Welt, über besondere Aktivitäten und Neuigkeiten, die alle um
das zentrale Thema der Liga-Weltkultur kreisten. Wer als fester Mitarbeiter für die
Wahrheit
tätig war, gehörte zu den Gehaltsempfängern des
Hauptquartiers und galt als besonders privilegiert, denn nur durch enge Verbindungen zu höheren Kreisen der Organisation vermochte jemand in eine solche
Position aufzusteigen. Es hieß sogar, dass sich Mahaguru Ken Andersen die Auswahl vorbehielt, wer für die
Wahrheit
schreiben durfte und wer, wenn
er sich dort bewährt hatte, seine Karriere fortsetzen konnte in dem verzweigten Geflecht von Redaktionen, Radio- und TV-Sendern, die unter dem Einfluss der
Liga standen.
Judith wirkte trotz ihrer großen, sportlichen Erscheinung ein wenig zu feinnervig, fast zerbrechlich. Ihr schmales, dünnhäutiges, blass wirkendes Gesicht
mit der dominierenden Nase und den wachen braunen Augen schien eingesunken in einen schwarzen Busch dichter, lockiger Haare, die bis über die Schultern
fielen. Ihr gewinnendes Lächeln stand in seltsamem Widerspruch zum abschätzenden Blick ihrer Augen, die bei der ersten Arbeitsbesprechung nach ihrer
Ankunft jeden in der Runde aufmerksam ausforschten. Sie saß lässig zurückgelehnt auf ihrem Stuhl, den Kopf zur Seite geneigt und doch schien sie von
vibrierender, mühsam in Kontrolle gehaltener Energie elektrisiert. Neben ihr saß Mark, der Fotograf, ein untersetzter, behäbiger junger Mann mit
streichholzlangen, kupferfarbenen Haaren und feistem, glatten Gesicht. Er beschäftigte sich ungerührt mit der Reinigung seiner verschiedenen Filter und
Objektive, die vor ihm auf dem Tisch ausgebreitet lagen, während sich Judith mit Dan Putnam stritt.
„Wir haben den Plan für euren Aufenthalt genau durchdacht. Ihr bekommt alles zu sehen, was es auf Bali zu sehen gibt – Tanzaufführungen an der Kunstschule
von Denpasar mit den besten Tänzern und Musikern der Insel, dazu ein original balinesisches Schattenspiel. Ferner Besuche in den Werkstätten von
Maskenschnitzern, Steinmetzen, Malern, Silberschmieden, Korbflechtern, einen authentischen Bauernmarkt mit Obst und Gemüse, Hühnern, Strohwaren,
Ikat-Tüchern und so weiter – Batikfabrikation schaut ihr euch besser in Java an – außerdem natürlich die schönsten Sehenswürdigkeiten – die wichtigen
Tempel, Besakih, Tanah Lot, Affenwald, Reisterrassen. Ein Fest für jeden Fotografen. Ich hoffe, Mark hat genug Filme dabei.“
Der Angesprochene nickte träge.
„Die Mission bietet ebenfalls ein volles Programm. Wir werden nach der ersten offiziell genehmigten Werbekampagne für die anstehende Vortragsreihe einen
Saal voll Balinesen haben, die alle brennend an der Liga interessiert sind – nicht alltäglich in Asien. Was wollt ihr mehr in einer Woche?“
„Ich glaube, ich erwähnte es bereits,“ entgegnete Judith genervt. „Wir wollen nicht die Sehenswürdigkeiten abklappern, die jeder Pauschaltourist vorgesetzt
bekommt. Wir wollen über das echte Bali berichten.“
„Was meinst du mit dem echten Bali? Wollt ihr die Jugendlichen beim Fernsehen auf dem Dorfplatz fotografieren, auf ihren Motorrädern, als Touristenjäger,
oder in den Discos von Kuta beim Drogenhandel? Gerne. Wir können das arrangieren. Aber da gibt es in Jakarta mehr Motive. Der Verfall der alten Kultur ist
dort um einiges weiter fortgeschritten als hier. Bali war stets etwas rückständiger.“
„Eben. Genau diese Rückständigkeit wollen wir sehen. Wir möchten ein echtes Tempelfest erleben, Prozessionen, Totenverbrennungen, Zahnfeilungen,
Hahnenkämpfe und so weiter.“
Dan lachte. „Da seid ihr um einige Jahre zu spät dran. Der hinduistische Aberglaube ist stark im Schwinden. Wie ihr wisst, besteht die Arbeit der Missionen
in Ländern wie diesem vor allem darin, der Liga-Weltkultur Vorschub zu leisten und die einengenden Muster traditioneller Bräuche aufzubrechen. Das müsstet
ihr von der
Wahrheit
eigentlich
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