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Der Name der Finsternis: Roman (German Edition)

Der Name der Finsternis: Roman (German Edition)

Titel: Der Name der Finsternis: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Binder
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sich zu den fließenden, dicht verwobenen Rhythmen im Tanz. Ohne Pathos großer Gesten vollzog sich dieses Fest zu Ehren der
    Götter. Niemand schien seinen Ablauf zu dirigieren, keiner gab Anweisungen, es schien dem Zufall, dem Augenblick überlassen, und doch geschah alles wie
    nach strengem Plan. Aron zog sich in einen Winkel der Tempelmauer zurück, von dem aus er den Hof überschauen konnte. Junge Männer näherten sich ihm. Der
    Mutigste sprach ihn an, ließ eine Kaskade seiner sanften, singenden Sprache über ihn fließen, doch Aron zuckte lachend die Schultern, drückte den Jungen
    die scheu hingestreckten Hände, sprach zu ihnen auf Englisch und Deutsch, was sie außerordentlich belustigte. Einer fand sich, der einige Brocken Englisch
    verstand. Sie tauschten mühsam Höflichkeiten aus, Aron beantwortete geduldig die Fragen nach seinem Namen, seiner Herkunft, seinen Eltern, seinen
    Großeltern, hörte die Namen der jungen Männer. Nun wäre es seine Pflicht gewesen, das Gespräch auf die Liga zu lenken, ihnen von der Mission in Sanur zu
    erzählen, sie zur Vortragsreihe einzuladen, ihnen Geschenke zu versprechen, doch Aron brachte kein Wort davon über die Lippen.
    Das Zwielicht der raschen tropischen Dämmerung wischte über den Tempel hin. Lampen flackerten auf. Kaum waren sie entzündet, als schon Dunkelheit auf den
    Hof herabgesunken war. Aron suchte nach den anderen. Hin und wieder sah er das Blitzlicht von Marks Kamera. Er sah Judith, die den Fotografen zur Seite
    nahm und auf ihn einredete. Sie diskutierten leise, bis Mark unwirsch die Kamera sinken ließ und im Koffer verstaute. I Gede war im Treiben der Menge
    verschwunden. Jedes Gefühl für Zeit ging Aron verloren. Er wusste nicht, wie lange er schweigend an der Tempelmauer gestanden, wie lange er mit den jungen
    Balinesen gesprochen hatte, die nun auf die Mitte des Hofes zeigten, wo sich vor einem der gespaltenen Tore ein Kreis aus Menschen formte.
    Plötzlich war I Gede neben Aron. „Komm, wir sehen Sanghyang Dedari,“ sagte er und zog Aron zu dem Ring aus Menschen hin. Hinter dem roten Steintor stiegen
    Wolken von Räucherwerk auf. Aron sah zwei prachtvoll gekleidete Mädchen, nicht älter als neun oder zehn Jahre, vor dampfenden Gefäßen knien, die Augen
    geschlossen, sich wiegend im Strom des Gesanges einer Gruppe von Frauen.
    „Sie haben nicht Tanzen gelernt, aber Himmelsnymphen werden in sie eintreten,“ flüsterte I Gede, als die Mädchen in ihrer Trance kraftlos zur Seite sanken.
    Die Frauen, die sich um sie bemühten, befestigten Blumenkronen auf den zierlichen Köpfen. Zwei Männer nahmen die Körper der willenlosen Mädchen auf die
    Schultern, trugen sie durch das Tempeltor auf den Platz zwischen den Zuschauern, begleitet vom Chorgesang der Frauen. Neues Leben erwachte in den Mädchen.
    Ihre Arme reckten sich nach oben, ihre Körper begannen sich fließend zu bewegen. Die Männer ließen die Mädchen in der Mitte des Kreises zu Boden gleiten
    und zogen sich zurück. Nebeneinander tanzten die Mädchen nun, die Augen geschlossen, die Mienen in unnahbarem Ernst gesammelt, wie Schlafwandlerinnen. Es
    schien, als wohne eine einzige Kraft in beiden Kindern, denn jede ihrer Bewegungen bis hin zum Spreizen der Finger, zum Drehen der Köpfe, war genau
    synchron.
    Aron starrte die Mädchen ungläubig an. Warnende Berichte aus der Liga-Literatur über Besessenheit fielen ihm ein, über das Sichöffnen gegenüber astralen
    Wesenheiten, die Hingabe an den verführerischen Zauber magischer Kräfte. Es galt als das gefährlichste und niedrigste, worauf sich ein Atma einlassen
    konnte. Und doch, auf diesem Tempelplatz, zwischen Hunderten halb nackter Leiber, in der lauen sternübersäten Nacht Balis, schien es Aron als würdiger
    Ausdruck für die Verehrung der Götter und Dämonen, die auf dieser Insel herrschten, als natürlicher Akt der Hingabe an höhere Mächte, nicht als okkultes
    Ritual, als Ausdruck primitiven Aberglaubens, sondern als Zeichen friedlichen Einklangs zwischen Himmel und Erde, zwischen der Welt der Menschen und der
    Welt der Götter. Die Dorfbewohner, die dem Schauspiel zusahen, beobachteten es wie etwas Selbstverständliches. Aron war benommen von dem Singsang der
    Frauen, dem Räucherwerk, das sich in dichten Schwaden über den Platz wälzte, der Atmosphäre konzentrierten Wachseins, die über den Menschen stand. Er
    spürte die Gegenwart einer fremden Macht, die er nicht begriff und die doch Teil des Lebens dieser

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