Der Name der Finsternis: Roman (German Edition)
Erlebnisse zielen, ein
Schulungsprogramm, das persönliche Schwächen in Erfolgsenergien umzuwandeln verspricht, Zuneigung und Nestwärme in einem Klüngel von Gleichgesinnten und
die unentwegt wiederholte Bestätigung, der auserwählten Elite anzugehören, der Avantgarde der künftigen Weltkultur unter Anleitung einer uralten Linie von
Adepten – Jason hatte den Nerv der Zeit getroffen.
„Spirituelles Fast-Food,“ meinte Ted, „Greatest Hits of Religion and Psychology. Der kleinste gemeinsame Nenner. Simple Lösungen für komplizierte Probleme.
Opium fürs Volk. Aber besser als Fernsehen, Drogen nehmen, Menschen umbringen und Kriege führen. Vermutlich ist die Welt tatsächlich nur auf solch triviale
Weise zu retten, nachdem alle anspruchsvolleren Rezepte versagt haben.“
Der innere Kreis bestand seit dem zweiten Ligaseminar unverändert aus sechs Personen – Jason selbst, Ted, Rob, John, Jane und mir. Der siebte im Bunde, den
wir zu unseren Treffen einluden, war der jeweilige sogenannte Präsident der Liga, der von Ted, Rob und mir für das Management der täglichen Geschäfte
eingesetzt und, wenn uns sein Wirken nicht gefiel oder er sich zu sehr an seiner Macht berauschte, wieder gefeuert wurde. Ich hatte die Position des
Liga-Präsidenten, die Jason zuerst mir übertragen hatte, bald delegiert, um dem ständigen Kontakt mit dem Hauptquartier zu entfliehen. Auf dem Papier galt
dieser Präsident als gleichberechtigtes Mitglied des inneren Kreises. Die Tatsache aber, dass wir in den vierten Kreis der Liga eingeweiht waren – er
selbst war bestenfalls ein Eingeweihter des fünften oder sechsten Kreises – und wir zudem die Macht besaßen, ihn zu berufen und wieder zu entlassen,
beschränkte seine Anwesenheit in unserer Mitte auf die eines Zuhörers und Befehlsempfängers, der zwar Vorschläge vorbringen durfte, aber nie darüber im
Zweifel gelassen wurde, wie tief unter uns er rangierte. Den Atmas galt der Präsident der Liga als unangreifbar hohe Persönlichkeit, in Wirklichkeit war er
nichts weiter als eine von unserer Laune abhängige, jederzeit austauschbare Marionette. Auf eben dieser Grundlage basierte die gesamte Hierarchie der Liga,
denn der Präsident verfuhr mit seinen Untergebenen nicht anders. Dieses menschenverachtende System setzte sich fort bis zum geringsten freiwilligen
Mitarbeiter, der in einem Liga-Zentrum irgendwo auf der Welt Papiere sortierte, Plakate klebte oder Fenster putzte, in der Hoffnung, einer Krume der „Macht
des Hju“ teilhaftig zu werden. Die Organisationsstruktur der Liga wurde im
Buch der Erleuchtung
als Abbild kosmischer Hierarchie dargestellt, in
der kein Platz war für Mehrheitsbeschlüsse und Demokratie, sondern nur für die unbeschränkte Macht der Ranghöheren. Jason sprach vom weisen Gebrauch dieser
Macht, behauptete, im System der Liga bedeute ein höherer Rang der Einweihung gleichzeitig ein Mehr an göttlicher Weisheit, doch dies machte die
Machtkämpfe in der Organisation nur noch unerbittlicher, denn jeder, der sich in der Hierarchie ein Stück nach oben gearbeitet hatte, berief sich in seinen
Entscheidungen auf den Willen des Hju und machte sich auf diese Weise immun gegen Kritik. Solche scheinbar aus höheren Quellen fließende Macht geriet
selbst auf den unteren Stufen der Liga-Pyramide zu einem Rausch, zur Willkür von Egoismus und Größenwahn, aber auch zur unablässigen Antriebskraft, auf der
Leiter der Einweihungen so hoch wie nur möglich zu steigen. Menschen von bescheidenem Durchschnitt glaubten sich durch das Hju zu Großartigem berufen und
verstiegen sich in blinde Selbstherrlichkeit, andere, die in ihrem Leben außerhalb der Liga versagten, bliesen sich zu hochrangigen spirituellen
Autoritäten auf, wähnten sich weit über allen Nicht-Atmas. Die Struktur der Liga bot solchen neurotischen Projektionen großzügig Raum und zog gleichzeitig
Nutzen aus ihnen. Der Eifer dieser Menschen, die alles taten, die Normen dieses Systems zu erfüllen, bildete das materielle und geistige Fundament der
Liga. Die Liga gründete auf einer Basis der Lüge. Konnte man erwarten, dass aus dem Samen der Lüge etwas anderes keimt als wieder die Lüge?
Im inneren Kreis aber gab es keine Hierarchie mehr. Selbst der Mahaguru wusste, dass er von uns anderen abhing, dass er nicht nach Gutdünken über uns
verfügen konnte. Es gab im inneren Kreis so gut wie nie Unstimmigkeiten. In allen wichtigen Fragen herrschte stets Einmütigkeit. Lediglich
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