Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Name der Rose

Der Name der Rose

Titel: Der Name der Rose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
Vom Netzwerk:
Panzer so eng mit dem Labyrinth verband, denn beide, wie auch die anderen Figuren in diesem Buche, erhoben sich auf einem dichten Figurengeflecht von mannigfach ineinander verwobenen Labyrinthen, deren smaragdene Linien, chrysoprasene Fäden und beryllene Bänder mich allesamt an nichts anderes zu mahnen schienen als an das Ineinander von Räumen und Korridoren, in welchem ich mich befand. Ja, mein Auge verlor sich, den funkelnden Wegen auf der Buchseite folgend, wie meine Füße sich im fieberhaften Durcheilen der Räume der Bibliothek verloren hatten, und daß ich derart mein eigenes Herumirren dargestellt sah auf diesem Pergament, erfüllte mich von neuem mit großer Unruhe, und ich begriff, daß all diese Bücher mich foppten und mir hohnlachend meine eigene Geschichte erzählten. » De te fabula narratur «, murmelte ich beklommen und fragte mich, ob diese Seiten etwa auch schon den weiteren Fortgang meiner Geschichte enthielten.
    Ich schlug ein anderes Buch auf, und dieses schien mir spanischer Herkunft zu sein. Die Farben waren grell, das Rot dünkte mich wie aus Blut und Feuer. Es war eine Handschrift der Offenbarung Johannis, und wieder fiel mein Blick sogleich auf die Seite mit der mulier amicta sole . Doch es war nicht dasselbe Buch wie in der Nacht zuvor, die Zeichnung war anders, und diesmal hatte der Künstler sich eingehender mit den Zügen und der Gestalt des Weibes befaßt. Ich verglich ihr Antlitz, ihre Brüste und ihre geschwungenen Flanken mit denen der Jungfrau auf der Mariensäule, die Ubertin mir gezeigt. Der Stil war anders, doch auch diese mulier kam mir wunderschön vor. Errötend über die Unschicklichkeit meiner Gedanken blätterte ich weiter, und wieder erblickte ich eine Frauengestalt, aber diesmal war es die Große Hure von Babel. Und mehr noch als ihr Körper beschäftigte mich der Gedanke, daß auch sie ein Weib wie die andere war. Denn obwohl doch die eine der Inbegriff aller Laster und die andere das Sinnbild aller Tugenden war, hatten beide die gleiche Weibesgestalt, hier wie dort, und auf einmal vermochte ich nicht mehr zu fassen, worin der Unterschied lag. Und wiederum stieg eine nie gekannte Erregung in mir auf, das Bild der Jungfrau auf der Mariensäule schob sich in meinem verwirrten Geiste vor das Bild der liebreizenden Margaretha, und heiß durchfuhr es mich: »Ich bin verdammt!« oder: »Ich bin ein Narr!« Nur fort von hier, ich durfte keinen Augenblick länger in dieser Bibliothek verweilen!
    150
    Der Name der Rose – Dritter Tag
    Glücklicherweise befand ich mich nahe der Treppe. Blindlings stolperte ich sie hinunter, ohne der Lampe zu achten. Sekunden später stand ich unter den weiten Gewölben des Skriptoriums, kam aber nicht zur Ruhe und stürzte mich weiter die Treppe hinunter zum Refektorium.
    Hier endlich hielt ich keuchend inne. Das Mondlicht jener sternklaren Nacht drang durch die hohen Fenster herein, so daß ich meine Lampe fast nicht mehr brauchte (die jedoch unverzichtbar gewesen war in den Zellen und Stollen der Bibliothek). Dennoch ließ ich sie brennen, gleichsam als Trost für mein aufgewühltes Gemüt. Doch da mein Herz weiterhin heftig klopfte, beschloß ich, einen Schluck Wasser zu trinken, um mich ein wenig zu beruhigen. Die Küche war gleich nebenan, also durchquerte ich das Refektorium und öffnete langsam eine der Türen, die zur anderen Hälfte des Erdgeschosses führten.
    Im selben Moment erstarrte ich, und mein Schrecken wuchs, anstatt abzunehmen. Denn sofort bemerkte ich, daß in der Küche, nahe dem Backofen, jemand war. Zumindest sah ich ein Licht dort glimmen, und erschrocken löschte ich unverzüglich das meine. Offenbar jagte mein Erschrecken dem anderen ebenfalls Schrecken ein, denn gleich darauf erlosch auch das seine. Aber das Mondlicht war hell genug, um vor meinen Augen den Schatten einer (oder auch mehr als einer) Gestalt auf den Boden zu werfen.
    Erstarrt vor Angst wagte ich weder zurück- noch voranzugehen. Da drang ein Aufschluchzen an mein Ohr, und mich dünkte, die Stimme einer Frau zu vernehmen. Gleich darauf löste sich aus der formlosen Gruppe, die sich undeutlich vor dem Backofen abzeichnete, eine gedrungene Gestalt und entfloh durch die Pforte zum Hof, die anscheinend halboffen gestanden hatte und nun mit leisem Klicken hinter dem Flüchtling ins Schloß fiel.
    Reglos verharrte ich auf der Schwelle zwischen Küche und Refektorium, und ebenso reglos verharrte ein undefinierbares Etwas neben dem Ofen. Ein undefinierbares,

Weitere Kostenlose Bücher