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Der Name der Rose

Der Name der Rose

Titel: Der Name der Rose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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räsonierte indessen gemäß seiner eigenen Erfahrung: »Die Welt der Gifte ist vielgestaltig, so vielgestaltig wie die Geheimnisse der Natur«, sagte er und wies auf die 160
    Der Name der Rose – Dritter Tag
    zahlreichen Gläser, Flaschen und Schalen, die wohlgeordnet nebst einer Anzahl von Büchern auf den Wandregalen standen. »Wie ich neulich schon sagte, viele dieser Kräuter könnten, wenn man sie entsprechend mischt und dosiert, tödliche Salben oder Getränke ergeben. Hier zum Beispiel der gemeine Stechapfel, die Tollkirsche, der Schierling: sie können Müdigkeit oder Erregung hervorrufen oder auch beides zugleich. In vorsichtiger Dosierung sind sie treffliche Medikamente, im Übermaß werden sie tödlich.«
    »Aber keine dieser Substanzen würde Spuren auf den Fingern hinterlassen?«
    »Keine, soviel ich weiß. Manche Substanzen werden auch nur gefährlich, wenn man sie einnimmt, andere wirken direkt auf die Haut ein. Der weiße Nieswurz zum Beispiel kann Übelkeit hervorrufen, wenn man ihn packt, um ihn aus dem Boden zu ziehen. Es gibt den Diptam und den Eschenwurz, deren Blütenduft die Gärtner in einen Rausch versetzt wie übermäßiger Weingenuß. Der schwarze Nieswurz ruft schon bei leichter Berührung Durchfall hervor. Andere Pflanzen verursachen Herzklopfen oder Kopfweh, wieder andere rauben einem die Stimme. Das Viperngift dagegen bewirkt, wenn es lediglich auf die Haut gelangt, ohne ins Blut einzudringen, nur ein leichtes Jucken. Einmal ist mir allerdings eine Mischung gezeigt worden, die, wenn man sie einem Hund auf die Innenseite der Schenkel nahe den Genitalien streicht, das Tier binnen kurzem verenden läßt, und zwar in gräßlichen Krämpfen, bei denen die Glieder allmählich erstarren . . .«
    »Du weißt viel über Gifte«, sagte William mit einem bewundernden Unterton in der Stimme. Severin sah ihn an und hielt seinem Blick stand. »Ich weiß«, sagte er schließlich kühl, »was ein Medikus und Botanikus, ein Diener der menschlichen Heilkunde wissen muß.«
    William verharrte eine Weile in nachdenklichem Schweigen. Dann bat er Severin, den Mund des Toten zu öffnen und die Zunge zu untersuchen. Neugierig nahm der Botanikus einen feinen Spatel, eines seiner ärztlichen Instrumente, und tat, wie ihm geheißen. Kurz darauf rief er verblüfft: »Die Zunge ist schwarz!«
    »So ist das also«, murmelte William. »Er hat etwas mit den Fingern ergriffen und verschluckt . . . Damit entfallen all jene eben genannten Gifte, die schon durch Berührung der Haut zu töten vermögen. Was unsere Aufgabe allerdings nicht erleichtert, denn wir müssen nun – bei ihm wie auch bei Venantius – einen freiwilligen Akt in Erwägung ziehen, eine absichtliche, nicht zufällige, nicht durch ein Versehen oder durch fremde Gewalt verursachte Handlung: Beide haben etwas genommen und sich in den Mund eingeführt, wobei sie sich ihres Tuns bewußt waren . . .«
    »Aber was? Eine Speise? Ein Getränk?«
    »Möglich. Oder auch . . . was weiß ich, ein Musikinstrument, vielleicht eine Flöte?«
    »Absurd!«
    »Sicher ist das absurd, aber wir dürfen keine Hypothese außer acht lassen, so ausgefallen sie auch sein mag. Kommen wir nochmal zurück zu den Giften. Wenn jemand, der von Giften soviel versteht wie du, hier eingedrungen wäre und einige deiner Kräuter entwendet hätte, so hätte er doch gewiß ein tödliches Zeug mischen können, das solche Spuren auf den Fingern hinterlassen würde, nicht wahr? Eine Substanz, die er in eine Speise oder in ein Getränk geben könnte, auf einen Löffel oder auf irgend etwas, das man in den Mund steckt?«
    »Gewiß«, bestätigte Severin. »Aber wer sollte das tun? Und selbst wenn wir die Hypothese gelten lassen, wie hätte er dann das Gift unseren beiden armen Mitbrüdern verabreicht?«
    Auch ich konnte mir offen gesagt nicht vorstellen, daß Venantius oder Berengar sich bereitgefunden hätten, jemanden an sich herankommen zu lassen, der ihnen eine geheimnisvolle Substanz anbot mit der Aufforderung, sie zu verschlucken. Doch meinen Meister schien diese Sonderbarkeit nicht zu stören.
    »Darüber werden wir später nachdenken«, sagte er. »Jetzt möchte ich dich erst einmal bitten, ein wenig in deinem Gedächtnis zu graben. Vielleicht fällt dir etwas ein, woran du bisher nicht gedacht hast. Hat dir in letzter Zeit jemand Fragen über die Kräuter gestellt? Jemand, der sich leicht Zutritt zum Hospital verschaffen kann?«
    »Warte mal«, sagte Severin und überlegte. »Vor

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